Wie von selbst neigen ölverschmierte Hände zum Abwischen an weißen Wänden. Schaut man sich später das Resultat in Ruhe an, spürt man in den Ölspuren die Bewegung der Hände. Obwohl schon längst vergangen, hat sich die Bewegungsanmutung in der Schmiererei erhalten und besitzt so einen ästhetischen Mehrwert.
Ist beim Verputzen der Hausfassade die Hand ausgerutscht, so dass eine schiefe Verputzspur mit schräger Endkurve entstand, ärgert das den Hausbesitzer. Er empfindet die misslungene Bewegung des Stuckateurs als aufdringliche Anmutung, der er sich nicht entziehen kann.
Auch in der chinesischen Berg-Wasser-Malerei ist die Pinselführung als ästhetisches Element wesentlich. Der leibliche Mitvollzug der Malbewegung beim Betrachter überschreitet dabei das Sehen zum Fühlen als Tastsinn hin und wird so zu einer Kinästhese, die ihren Sinn nicht darin hat, den kontinuierlichen Ablauf einer dynamischen Wahrnehmung zu sichern, sondern einen ästhetischen Mehrwert zu erzielen.
Das Ideal der Berg-Wasser-Malerei besteht dabei darin, die leibliche Anmutung nicht auf den Pinselakt des Malens zurückzuführen, sondern im Schaffen einer neuen Wirklichkeit aufgehen zu lassen: die Landschaft soll durch die Pinselbewegung zum Leben erweckt werden, so dass ein Effekt gesteigerter Wirklichkeit entsteht.
Wenn rein die Pinselbewegung nachempfunden wird, so würde das der Landschaft etwas nehmen, weil sie erst dadurch ein Eigenleben führt, dass über die gekonnte Abbildung hinaus geht. Die stilisierte Landschaft gewinnt in dem Maße, wie eine Bewegung in sie gelangt, deren Ursprung nicht empfunden wird, die Bewegung selbst allerdings sehr wohl.
Beim Brot wiederum liegt ein Sonderfall vor, den die Knet- und Walkbewegungen des Bäckers werden zusammen mit dem Aufgehen des Teigs und der daraus resultierenden Form als Bewegungsempfinden gespürt. Die Bewegung des Bäckers und die Eigenbewegungen des Brotteigs beim Backen fließen dann ineinander. Sie müssen auch so eine Einheit ergeben, weil dem Brot sonst etwas Entscheidendes fehlt und man es nicht kauft. Dasselbe gilt für die Brezel, die aus einigen wenigen fließenden Bewegungen heraus auf das Backblech gelegt werden muss, damit man später beim Essen darin auch die richtige Form hat.
Die Brezel zu ergreifen, zum Mund zu führen und es durch Kauen zu zerlegen und zu zerstören, ist dabei eine kleine, unterschwellige Lust. Hätte das Backerzeugnis nicht die richtige Form samt Bewegungsanmutung, würde das Zerkauen wenig Sinn machen, da man sich die Form nicht durch Zerstörung aneignen kann – das muss der Bäcker beachten.
Die Einheit von Sehen, Tasten aus der Ferne und Kinästhesen bildet also einen Aspekt des Alltags. Sie kann den Charakter eines kleinbürgerlichen Ärgers annehmen (beim Putz), Kunst sein (Berg-Wasser-Bild) oder gut schmecken (Brot zerkauen). Große Bedeutung hat sie natürlich in der Architektur, wo ein ganzes Gebäude eine Bewegungsanmutung auslösen kann, die dann Teil des Wohnens überhaupt wird. Sie bildet dann eine je nachdem (un)freundliche Grundströmung, ohne zu wissen, wie man überhaupt dort hinein gelangt.
Sebastian Knöpker