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Phänomenologische Lebensberatung: Grußzwang

Ich arbeite an einer Gesamtschule und muss im Laufe des Tages hunderte Schüler und Lehrer begrüßen. Selbst kurz vorm Feierabend bin ich immer noch am Grüßen; es ist halt eine Vorschrift. Bin ich zu empfindlich?

Sicher fühlen sie sich wie ein professioneller Begrüßer im Walmart-Supermarkt: A walmart greeter provides a sunny disposition for the client. Ein bisschen ausgebrannt kann man sich bei dieser Tätigkeit schon fühlen. Nicht umsonst sind viele greeter geistig behindert, so dass zu keinen Abnutzungserscheinungen kommt. Im Gegenteil, der Begrüßungselan nimmt bei ihnen nie ab.

Die Begrüßung hat meist keinen Erkenntnismehrwert. Wenn man einander schon kennt, muss man den anderen nicht mit seinem Namen anreden. Die Grußformel hat dagegen den Sinn, im Akt des Grüßens sich und den anderen überhaupt wahrzunehmen. Es kommt zu einer Bezeugung des Anderen: ich sehe dich und du siehst mich, so dass wir beide ein Gewinn an Selbstpräsenz daraus ziehen.

Zudem senkt die Begrüßung die Wahrscheinlichkeit von handfesten Auseinandersetzungen. Würdenträger verschiedener Religionen begrüßen deswegen einander besonders ausgiebig, um sich nicht gegenseitig erschlagen zu müssen. Allgemeiner ausgedrückt ist das oberflächlich-freundliche Miteinander oft dazu da, die Anstrengung zu vermeiden, den anderen zu ignorieren. Teil dieser Anstrengung ist es, beim Nichtgrüßen den Mitmenschen unter feindlichen Vorzeichen zu sehen. In den USA wird deswegen so viel und so falsch gegrüßt.

Nur in den seltensten Fällen bedeutet der Nichtgruß das Positive, dass einem in der Gleichgültigkeit immerhin nichts verboten wird. Das ist manchmal in Deutschland oder in Russland der Fall, wo jeweils eine ausgeprägte Verbotskultur herrscht. Werde ich dort nicht begrüßt, muss ich nichts befürchten, lautet so die Moral.

Anders sieht es beim Fußball aus. Auf dem Weg zum Stadion begrüßt man viele Leute, die man nur vom Sehen, also vom Grüßen vor Spielen kennt. Über die Begrüßung hinaus wird nicht geredet, weil sie Selbstzweck ist. Im Akt der Begrüßung steckt eine kurze Belebung, die als Serie von Belebungen den Reiz ausmacht, ganz langsam zum Stadion zu gehen und unterwegs an einigen Kneipen Halt zu machen.

Man nickt den Leuten jeweils auf etwas unterschiedliche zu, fühlt sich dabei gut und kann beim Nachhausegehen eben dieselben wieder mit Freude verabschieden.

Auf Ihre Frage zurückgekommen: wo das Grüßen nicht der Bezeugung des Anderen dient, macht es keinen Sinn. Als Sozialpädagoge muss man allerdings diesen Sinn voraussetzen, auch wider besseren Wissens. Wenn das Begrüßen auch keinen Spaß macht, bleibt immer noch die Funktion, sich durch Begrüßung die Anstrengung der Indifferenz dem Mitmenschen gegenüber ersparen zu können.

Sebastian Knöpker