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Kinästhese in der Phänomenologie

Kinästhese bezeichnet den Bezug von Bewegung auf Wahrnehmung und Handlung. Elementar ist die Kinästhese beim Umblättern eines Buches. Ohne Umschlagen der Seite kommt es zum Abbruch des Lesens. Mit ihr kommt es zur Einheit von Handlung und Wahrnehmung.

Unglücklich verlaufen die Kinästhesen, will man in einem windigen Innenhof Blätter zusammenfegen, die schneller auseinander geweht werden als die Kinästhesen (funktionale Union von Wahrnehmung und Fegen) hinterher kommen. Kaum hat man einen kleinen Haufen zusammen, wird wieder alles durcheinander gewirbelt. Passiert das in einem Kasernenhof, schreit der Stabsunteroffizier den Untergefreiten hemmungslos an. Kein Wunder: der Rekrut ist ein Antitalent in Sachen Kinästhese.

Hintergründig angenehm sind die Kinästhesen, bereitet man einen Pasta-Teig zu. Das Vermengen von Ei, Gries und Mehl verlangt nur die Standardkinästhesen. Doch bereits beim Kneten des Teiges übernimmt das kinästhetische Prinzip die Handlung, d.h. ausgehend von der Bestimmung der Handlungseinheit von Wahrnehmung und Kneten ergibt sich eine Handlungsbestimmung ohne Ichbeteiligung in der Zubereitung der pasta fresca.

Ob ein Teig zu klebrig ist, zu wässrig, zu trocken usw. wird über den Tastsinn gefühlt, der entsprechende Handlungen motiviert und initiiert. Mehr Mehl dazugeben und die Menge des Mehls im Griff haben (oder ein wenig mehr Olivenöl), das ergibt sich aus dem Tastsinn, der alles im Griff hat, auch das Subjekt selbst, das da kocht. Das Ich wird also von der funktionalen Einheit, die aus Tasten und Handeln besteht, übernommen und verliert seine Macht an das kinästhetische Regime.

Anders ausgedrückt ist die Teigzubereitung eine Möglichkeit, die Machtverhältnisse von „Ich mache“ zu „Es macht in mir“ neu zu ordnen. Die Feststellung, ob der Teig genug geknetet worden ist, also ob er genug Elastizität und Kohärenz (Gluten) aufgebaut hat, ist der Kinästhese vorbehalten, so wie auch die Beantwortung der Frage, was zu tun ist, wenn das Resultat zu wünschen übrig lässt. Dasselbe gilt für das Ausrollen des Teiges, das nur kinästhetisch gelingen kann und für den Pasta-Koch das Angenehme an sich hat, das Ich zu entlasten und zu einem Handeln aus dem Selbst zu führen. Die Verknüpfung von Wahrnehmung und Handlungsfindung ist also ein Weg, der Herrschaft des Ich zu entkommen.

Sebastian Knöpker