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Phänomenologie der Normalität

Briten haben es an sich, das fraglos Exzentrische und Unstimmige als normal zu behandeln. Dabei ziehen sie das Anormale in das Normale herüber und behalten doch einen gesteigerten Sinn für das Ungeratene. Die Folge: Britishness, bestehend aus feiner Ironie.

Die Frage ist also nicht, wo die Grenze zwischen normal und anormal zu ziehen ist. Es geht vielmehr darum, aus dem Unüblichen etwas in den Bereich des Selbstverständlichen anzusiedeln.

Wenn mich meine Tante vom Bahnhof abholt und wir vor ihrer Haustür stehen, kramt sie aus einem Jutebeutel mit Hunderten Schlüsseln darin, umständlich den richtigen Schlüssel für ihre Haustür. Sie besitzt mehrere Häuser, Objekte, wie sie selber im Immobilienjargon sagt, und will jederzeit jedes Schloss öffnen können. Von Schlüsselringen hat sie noch nie etwas gehört.

Anstatt Witze über ihr Schließertum direkt aus der JVA zu machen, schweige ich dazu. Auch in mir selbst regt sich keine Bemerkung. Denn es geht nun um die Krone der Ironie, die Schlüsselaktion so zu behandeln, als wäre sie normal. Das gelingt natürlich nie ganz, so dass es zu einem Überschieben von normal und anormal kommt.

In dieser Überschiebung findet dann die ironische Regung statt, in der sowohl der Modus „normal“ als auch der Modus „durchgestrichen anormal“ Platz findet. Die Kunst der Ironie besteht entsprechend darin, kein Urteil über das Anormale des Schlüsselerlebnisses zu fällen – nicht vor sich selbst und schon gar nicht vor anderen – um dennoch das scheinbare Normale als das durchgestrichen Anormale zu bewahren, so beides zusammen genommen den gesuchten Witz ergibt.

Anders ausgedrückt: treffe ich mit meinem Freud Brinkmann, der seine Tür aufschließen will, den Schlüssel gar nicht findet und stattdessen kurzerhand die Tür eintritt, ist das eine unübliche Art, ein Haus zu betreten. Natürlich, die Haustür war sowieso in geschwächtem Zustand und der Tritt gar nicht brutal, aber hier liegt etwas Ungewöhnliches vor.

Brinkmann und ich tun so, als wäre nichts passiert; wir setzen uns an den Küchentisch und trinken Bier. Dabei lebt die Situation von der Überschiebung des durchgestrichen Anormalen und nicht das Bier wirkt, sondern die Ironie.

Die Bedingung für diese Art des Ironischen ist es dabei, das Anormale nicht zu suchen und zu inszenieren, sondern aus sich heraus geschehen zu lassen. Es darf nicht aufgesetzt sein, so wie auch die Reaktion darauf äußerste Diskretion braucht. Hier liegt keine übliche Witzmaterie vor, die man schnell in die richtigen Wort e zu bringen hat. Es geht stattdessen darum, zu schweigen und dennoch das suspendierte Urteil zu vollziehen, das Anormale als normal zu bestimmen.

Für Leute mit klassischem Ruhrpotthumor kommt das nicht in Frage, weil sie die Pointe unbedingt der Welt erzählen müssen. Briten und auch Norweger sind hingegen von sich oft ein wenig verschroben und können so das nicht richtig Sitzende beim Mitmenschen beinahe übergehen. Im Austausch von anormal zu normal unter Beibehaltung des Ganzen als durchgestrichen anormal kommt es also zu einer unaufdringlichen Witzreaktion.

Sebastian Knöpker