Von einem unbefriedigendem Erlebnis, etwa einer langweiligen Rede, bleibt etwas, nachdem die Rede vorbei ist. Man weiß nicht mehr im Einzelnen was überhaupt gesagt worden ist, aber das Erlebte hängt einem als störender Hintergrund nach, der nicht vergehen will. Was häufig Müdigkeit genannt wird basiert auf diesem lastenden und brütenden Hintergrund, der das Werden von neuen Erlebnissen behindert. Diese Stimmungen bilden sich häufig: nach einer Bahnfahrt, nach einem mäßigen Film im Fernsehen, nach einem in die Länge gezogenen Frühstück. Das Problem in ihnen findet sich im dumpfen und lastenden Charakter, der nicht nur aktuelles Unwohlsein ist, sondern auch das Werden neuer Eindrücke verhindert. Und tatsächlich ist man kaum jemals frei von solchen Stimmungen; selbst nach dem Aufwachen befindet man sich nicht in völliger geistiger Frische und Klarheit, da einem das Geträumte und die Phase des Aufwachens als Unvergangenes noch nachhängen.
Grundsätzlicher ausgedrückt sind die Qualitäten des Erlebens abhängig von der Dynamik ihres Werdens und Vergehens. Für das Erleben gilt, dass das dominant Aktuelle immer schon von einem Horizont an Werdendem (Protentionen) und einem Hof an Vergehendem (Retentionen) begleitet wird. Diese Dynamik wird dabei im Alltag nicht einfach hingenommen, sondern auf verschiedene Weisen forciert: das Werdende soll schneller zum dominant Aktuellen werden, dieses Aktuelle soll dauern und nicht ins Vergehende übergehen, das Vergehende soll wieder zum Aktuellen werden usw.
Die willkürliche Gestaltung der Zeitdynamik ist dabei einerseits Bedingung dafür, überhaupt über längere Zeit zielgerichtet zu arbeiten, so dass man nicht auf ein unwillkürliches Werden angewiesen ist, andererseits verstetigen sich bestimmte Stile der Stauchung des Werdens und Vergehens, die abseits spezifischer Aufgaben ungeeignet für das Erleben sind.
Charakteristika der Dynamik des Werdens und Vergehens
Die Behauptung, Erlebnisse fänden sich nicht in der Welt, sondern müssten vom Erlebenden erst erschaffen werden, lässt sich anhand des Erlebens von Musik noch einmal gut demonstrieren. Musik erleben zu können setzt eine bestimmte Dynamik von Werden und Vergehen voraus. Sie besteht in einer beständigen Aufmerksamkeitsverlagerung von Form und Grund in Analogie zu den bekannten Kippfiguren, die je nach Perspektive Hase oder Ente, alte Frau oder junge Frau bedeuten können. Diese Inversionen zeigen die relative Austauschbarkeit von Form und Hintergrund für jeden nachvollziehbar an.
Wie im Optischen gilt diese in Grenzen dem wahrnehmenden Subjekt offen stehende Formbildung mutatis mutandis auch für das Akustische. Aus Tonfolgen Musikerlebnisse zu gewinnen bedeutet hier, bestimmte aufeinanderfolgende Töne zu einem Akkord oder zu einer Einheit des Klingens überhaupt zu machen. Diese Synthesen müssen dabei mit dem Tempo der ablaufenden Musik Schritt halten, also eine Dynamik von werdenden zu aktuellen und zu vergehenden Auffassungen ermöglichen.
Manche Tonfolge kann nun deswegen nicht zum Musikerlebnis werden, weil die Erfassung einzelner Elemente zu einer ausgedehnten Gegenwart die Fähigkeit der Ausdehnung der Gegenwart des Wahrnehmenden überschreitet. Zum Beispiel erzeugt eine geschlossene Eisfläche auf einem See, die langsam auftaut, durch Spannungsentladungen knackende Geräusche, die in der Aufeinanderfolge eine Art der Melodie ergeben können, sofern der Hörende die relativ langen Zeiträume zwischen den einzelnen Spannungsentladungen retentional in sich bewahren kann. Ansonsten erfolgen dem Hörerlebnis nach nur einzelne Töne.
Manch andere Tonfolge kann aber auch deswegen nicht zum Musikerlebnis werden, weil die zu verwirklichende Form unbekannt ist und noch kein Zugang zu ihr gefunden worden ist. Ein einfacher Zugang zu einer Tonfolge gelingt im Ta-tü-ta-ta einer Krankenwagensirene, eine schwer erfassbare Form im Ausläuten mehrerer Kirchenglocken, die Zufallsmelodien produzieren, die nur dann erfasst werden können, wenn man keine bestimmten protentionalen Formen zur Anwendung bringt.
Der protentionale Horizont muss dabei immer auf die kommende Tonform bereits ausgerichtet sein, d.h. es bedarf einer bestimmten Erwartung, welche die Synthese erst ermöglicht. Die Töne können nicht erst gehört werden, so dass darauf folgend eine Form (Melodie, Akkord usw.) synthetisiert wird, da unablässig neue Töne folgen, die ihrerseits wieder in eine Form gebracht werden müssen, möchte man das Musikangebot auch zum Musikerlebnis machen. Wenn der protentionale Horizont durch eine musikalische Erwartung (z.B. durch ein Marschmusikthema) bestimmt ist, zu der das Erklingende nicht passen kann (etwas Atonales), so ist das Werden der Musik gestört. Es ist auch dann gestört, wenn das Verklingen der Töne in der retentionalen Reihe zu unmittelbar geschieht. Hat man die vorher erklungenen, unaufdringlichen Töne nicht recht zur Kenntnis genommen, hat man darüber hinweggehört, worauf dann ein Donnerhall folgt, so ist man nur erschrocken über den Donner, was nicht der Fall wäre, brächte man diese in Relation zum Donner. Ohne qualifizierte Gegensatzbildung kann also der Donner nicht zum erlebten Donner werden, sondern ist bloßes Erschrecktwerden.
Umgekehrt kann auch das zu langsame Vergehen des Gehörten das weitere Werden der Musik stören, etwa in der Aufeinanderfolge einer unaufdringlichen Melodie auf eine sehr eingängliche, was sich in Mahlers spätem sinfonischem Werk findet, nämlich in dem Nebeneinander von typisch romantischen Motiven zu dem, was heute als Filmmusik bezeichnet wird. Der retentionale Hof stört dann in seiner Präsenz den protentionalen Horizont, so dass in diesem die neue musikalische Form nicht aufgefasst werden kann. Denn in der auf Basis der retentionalen Reihe gebildeten Erwartung kommt es zur Enttäuschung oder Verwunderung über das im Anschluss Gehörte.
Der protentiale Horizont kann aber auch generell durch die starke Präsenz des Vergehenden als formloser, aber dennoch wirkungsmächtiger Stimmung gestört sein. Es bleibt ein Hof an Vergangenen, nicht so sehr die Töne oder Tonfolgen, sondern eine hintergründige Stimmung, die keine spezifischen Details mehr erkennen lässt. Diese Präsenz wird in der Regel als störend empfunden, weil etwas da ist, was hätte vergehen sollen, aber immer noch in Unkenntlichkeit gegeben ist. Es handelt sich um ungebetene Gäste, die in der Form eines Drückens verspürt werden.
Diese Erlebnisse legen nahe, dass ein gestörtes Werden und eine gestörte „Gegenwart“ sich in der Retention als Störung fortsetzt. Die Störung verflüchtigt sich auch dann nicht sofort, wenn ein Erlebnisangebot folgt, welches sich normalerweise für den Betreffenden leicht realisieren lässt, und stört so auch dieses Erleben. Auf diese Weise liegt eine Störung im Erleben der Stimmung des Retentionalen selbst vor und eine (mögliche) Störung des Werdens neuer Erlebnisse.
Die Aufhebung der Stimmung des Unvergangenen durch die große Vernunft des Leibes
Den willkürlichen Bestimmung des Werdens und Vergehens sind also als Orientierungsmarken Rhythmen entgegenzusetzen, die überhaupt ein Bemerken der Existenz des Rhythmusproblematik möglich machen und ihrerseits als Standardrhythmen sicher abrufbar sind. Nietzsches große Vernunft des Leibes findet hier konkrete Anwendung, da bestimmte leibliche Vorgänge solche spezifischen Zeitdynamiken aufweisen. Zwar sind diese Dynamiken nicht naturbelassen, da selbst der Herzschlag nicht als natürliche Größe angesehen werden kann. Jedoch gibt es körperliche Exerzitien, die die gesuchten Rhythmen sicher zu Tage fördern.
Dazu gehört die Bewegungsmeditation Tai Ji Quan, die wegen ihrer auf einen imaginären Gegner bezogenen Bewegungen auch Schattenboxen genannt wird. Tai Ji illustriert die praktische Bedeutung des von Viktor von Weizsäckers so genannten Gestaltkreises. Dieser gibt die Charakteristik von gerichteten Bewegungen des Menschen wieder, dass im Bewusstsein von der Bewegung die Wahrnehmung von dieser (oder vice versa) ausgeblendet wird. Es findet sich eine Dynamik von Verdunklung und Erhellung, die bei einer Störung die Ausführung der Bewegung erschwert bzw. bei komplexeren Bewegungen unmöglich macht.
Bedingung für die Ausführung einer Bewegungsfolge des Tai Ji ist es, eine bestimmte Abfolge von Aufmerksamkeit und Vergehen der Aufmerksamkeit ohne nachfolgende Zerstreuung durchzuführen. Während für die meisten Tätigkeiten des Alltags keine zwingende Zuordnung einer bestimmten Weise des Bewusstseins vorgegeben ist, so dass man häufig eine unpassende Kombination von Tätigkeit und Weisen des Bewusstseins bzw. Nichtbewusstseins eingeht, lässt das erfolgreich praktizierte Tai Ji dafür keinen Raum, da eine unangemessene Dynamik von Werden zu Sein zu Vergehen die Bewegungen abbrechen lässt.
Die Bewegungsfolgen des Tai Ji der kleinen Pekingform sind so angelegt, dass eine fehlerhafte Bewegung die Gesamtform zerstört. Eine Bewegung folgt aus der anderen; das Ende der einen Bewegung ist der Beginn der nächsten, kann es aber dann nicht sein, wenn die richtige Ausgangsstellung der Arme, Beine usw. nicht eingenommen worden ist. Gleiches gilt für das Spiel mit dem Gleichgewicht, welches bei einer falschen Bewegung außer Kontrolle gerät. Gleiches gilt auch für die Fläche, auf der die kleine Pekingform absolviert wird: eine falsche Richtungsänderung lässt den Übenden aus dem Schrittdiagramm auskehren, und wenn er nicht auf einem sehr weiten Platz übt, wird er bald gegen ein Hindernis stoßen.
Verständlicher wird dieses Verhältnis von Sein als Werden und Vergehen, vergegenwärtigt man sich die barfüßige Querung eines Flusses. Ich stehe barfuss vor einem kleinen Fluss und muss vom ersten Schritt an den Untergrund, auf dem ich zu stehen komme, richtig einschätzen, um nicht in das Wasser zu fallen. Jeder neue Schritt macht den vorherigen Stein, auf dem ich stand, vergessen, weil das Stabilisieren des Gleichgewichtes volle Konzentration erfordert. Jeder neue Schritt entwirklicht das Vorherige, zentriert sich auf das Gegenwärtige, so dass man, wieder auf festen Boden glücklich angekommen, auch den Geisteszustand vom anderen Ufer dort gelassen hat, da der beschränkte Horizont des rückstandslosen Werdens und Vergehens des tastenden Querens auch alle sonstigen Horizonte entwirklicht hat.
Gegenüber eines solchen Bewegungsablaufes hat Tai Ji Quan aber nun den Vorteil, eine gefestigte Bewegungslehre mit einzelnen, bestimmten Abfolgen der Bewegung zu sein, auf die man bei Bedarf zurückgreifen kann. Ein weiterer Vorteil einer Bewegungsmeditation wie das Tai Ji Quan ist es auch, dem Zwang des Menschen zum Sein mit einer Form der Seinserfüllung zu begegnen, die nicht den Anschein haben muss, produktiv zu sein. Ist der Zwang zum Sein ein Zwang zur Produktion von Bedeutung bzw. von Zeichen, so sind die Zeichen des Tai Ji für den Moment, der sich im nächsten Moment aufgehoben hat. Wir haben eine andere Form des Zwangs zur Zeichenproduktion kennen gelernt, das Moralisieren, dessen Zeichen sich nicht im Übergang zum nächsten Zeichen von selbst aufheben, sondern eine negative Dynamik anstoßen.
Jeder Augenblick im Leben bei Bewusstsein muss gelebt werden, aber nicht jeder Augenblick kann über sich hinaus produktiv sein – eine Verpflichtung, der die meisten Menschen anhängen. Natürlich sind die Bewegungen des Tai Ji damit nicht unproduktiv, da sie neben der Rhythmusfunktion das Leben als Moment des Lebens erfüllen, und somit mindestens das Abgleiten des Erfüllungszwanges des Seins in Formen des Leidens verhindern. Weit darüber hinaus ist die gelungene Praxis des Tai Ji Fülle in sich. Dass diese Fülle nicht über sich hinaus weist, disqualifiziert sie in den Augen vieler als sinnlos und Lufterscheinung.
Zurückgekommen auf die Stimmung des dumpfen und lastenden Charakters des Nachgebliebenen eines Erlebnisses besteht die große Vernunft des Körpers darin, durch bestimmte Bewegungen die Dumpfheit aufzuheben, also ein hintergründiges Leiden aufzuheben und Raum für ein unbelastetes Werden neuer Erlebnisse zu schaffen. Die Vernunft des Leibes besteht darin, eine angemessene Abfolge von Werden und Vergehen, sowie eine richtige Zuordnung von der Weise des Bewusstseins zur Tätigkeit zu garantieren.
Man muss diese Vernunft des Leibes nicht im Rahmen des Tai Ji nutzen. Das Schattenboxen ist nur eine Möglichkeit der Rhythmenbildung, die in Teilen der Welt auch alltäglich praktiziert wird. Die reine Praxis ohne das Wissen um die Dynamik des Werdens und Vergehens ist jedoch immer davon bedroht, aus Unachtsamkeit aufgegeben zu werden. Die Gefahr besteht darin, Bewegungen wie die des Tai Ji Quan als im Grunde sinnlos abzuwerten, weil sie der tradierten Nutzenvorstellung nicht entsprechen.
Die erweiterte Nutzenkonzeption nimmt dagegen Stimmungen als relevante Zustände des Daseins ernst. Es ist Alltag, dass man in der Dumpfheit des gerade Gewesenen aber nicht Vergehenden stecken bleibt, weil vom Erkennenwollen, Verstehenwollen und Erlebenwollen jeweils ein epistemischer, hermeneutischer und hedonistischer Zug ausgeht, der die Dynamik des Werdens und Vergehens nicht wahrzunehmen vermag. Gerade dieser Zug oder Druck, etwas zu verstehen oder zu erleben (Erlebnisdruck), macht es unmöglich, passive Synthesen zu vollziehen, welche das Unvermögen ungestörten Werdens aufheben können. Die nachgesuchten passiven Produktionen können durch Tai-Ji Bewegungen vollzogen werden, aber der Sinn solcher Bewegungen kann durch den Habitus des direkten Verstehen- und Erlebenwollens nicht erfasst werden. Solche Bewegungen erscheinen aus dieser Perspektive als lächerlich und unsinnig, weil sie scheinbar nicht auf der Ideallinie vom Nichtverstehen zum Verstehen und von der Langeweile zur Kurzweile liegen. Dieses Ideal des unmittelbaren, möglichst anstrengungslosen Übergangs zu überwinden gelingt dabei so lange nicht, wie die passiven Synthesen als Weisen der Handlung nicht erkannt werden. Sie gelingen auch dann nicht, wenn Verstehen nur als Kreation von Zeichen aufgefasst wird, nicht aber als Vergehen von Zeichen, welches einen Verbrauch von Zeichen erfordert; im Falle des Tai Ji wären die entsprechenden Bewegungen diese „Zeichen“.
Sebastian Knöpker