Der alte Traum der Meditation: das empirische Ich loswerden, ein Niemand werden und sich darin so intensiv wie nie erleben. Auf der Hälfte des Weges zum meditativen Nicht-Ich kann man Halt machen und zum lyrischen Ich finden. Die Ichhaftigkeit ist dann zugleich vermindert und gesteigert, ein Traumzustand des Egos.
Der Mensch will gerne er selbst sein, also ein Jemand mit Beruf, Karriere, Status und Unterschrift. Manchmal aber will man einige oder sogar alle Eigenschaften loswerden und inkognito man selbst sein, um sich so zu genießen. Diese Bezauberung vom Ich wird durch das lyrische Ich möglich. Es klammert viele weltliche Ich-Eigenschaften ein und schafft so einen Urlaub vom Ich, das sich darin gestärkt wiederfindet.
Gedichte werden oft von lyrischen Subjekten bewohnt, die ihren Namen nicht sagen und überhaupt keine konkrete Existenz führen, dafür aber eine Befindlichkeit hervorbringen, in der das Ichgefühl aufblüht. Das Liebesgedicht über die verlorene Liebe sagt so nicht seinen Namen und erzählt auch nicht von den konkreten Gründen des Scheiterns, sondern inszeniert ein lyrisches Ich, das behaglich Nostalgie in Raum und Zeit ausbreitet.
Das Behagen beruht darauf, ein konkretes Begehren nach Liebe in eine Sehnsucht nach Liebe allgemein zu transferieren, die dann noch weiter konkret abstrahiert wird. Denn die Sehnsucht kann auch ohne Objekt dastehen, ohne eine bestimmte Person, aber auch ohne ein Motiv wie die Liebe. Da es Freude macht, sehnsüchtig zu sein, ohne genau zu wissen, wen und was man begehrt, begibt man sich damit in einen Urlaub vom wollenden Ich und wird zum lyrische begehrenden Subjekt.
Das ist aber auch gefährlich, da man sich so als in eine Stimmung versetzen kann, in der man zum Opfer einer namenlosen Ungerechtigkeit wird, ein abstraktes Opfer also, das parfümiert leidet. Abstrakt bezeichnet dabei den Umstand, den Bezug der Ungerechtigkeit auf etwas Bestimmtes beiseite zu lassen. Das lyrische Ich kann sich als unerhörtes Opfer fühlen, weil es nicht vor Gericht steht. Es muss nicht sagen, was geschehen ist und noch weniger das Geschehene beweisen. Phänomenologisch ausgedrückt lässt sie die intentionalen Bezüge außen vor und ist Opfer ohne Tat, Täter und Schaden.
Der Reiz am lyrischen Subjekt besteht also darin, den ichlichen Horizont aufzuweichen und die Bezüge auf konkrete Umstände, Dinge und Situationen aufzuheben. Das Motiv der Lebensveränderung z.B., alles anders als bisher zu machen, wirkt demnach dann besonders gut, wenn man das Grundmotiv ohne konkrete Ziele und Widerstände als flottierende Gestimmtheit erlebt. Das große Projekt ist dann nicht mal mehr ein Ziel, aufgelöst in eine Stimmung, sondern eine Stimmung, aufgelöst in eine Gestimmtheit. Es wird zur Haltung zum Leben allgemein, die gerne bereit ist, sich mit dem Kommenden zu beschäftigen, wenn es einmal eintreten sollte.
Das lyrische Ich ist nicht dem Gedicht vorbehalten. Auch Cannabis favorisiert die losgelöste Gestimmtheit vor einem Motivhintergrund. Es treibt den Wachtraum an, der das lyrische Ich immer ist. Cannabis benebelt nicht so sehr: es lockert vielmehr die intentionalen Bezüge zu lockern. Das gilt auch für bestimmte Arten der Philosophie, für Hegels Phänomenologie des Geistes, die als Gedankenroman für Menschen mit Veranlagung zum lyrischen Ich gedacht ist.
Sebastian Knöpker