Ironie muss nicht Lustigkeitshumor sein oder eine höhere ästhetische Natur aufweisen. Sie kann ihren Sinn in der Bewältigung der alltäglichen Wirklichkeit haben. Viele Chinesen sind so auf eine Weise ironisch, eindeutige Situationen mehrdeutig aufzufassen, um sich nicht voreilig festzulegen. Ironie auf Chinesisch meint, also, Vagheit als Pluralität von Bedeutungen zur Abfederung der Wirklichkeit zu nutzen.
Ironie bezeichnet die widerstreitende Auffassung von ein und derselben Sache: Adolf Hitler als Massenmörder und zugleich als Hundefreund sorgt beim geneigten Ironiker so für eine Belustigung, da diese beiden Identitäten einen Widerstreit auslösen. Beides ist in ethischer Perspektive nicht miteinander vereinbar und diese Unverträglichkeit wird in einem ironischen Gefühl zum Ausdruck gebracht.
Eine einzelne Eigenschaft Hitlers wie etwa die Qualität des Hundefreundes steht dann jeweils für den ganzen Menschen und ergibt eine Identität, die mit einer anderen Identitätssetzung auf Basis einer anderen Eigenschaft in Konflikt steht. Als Reaktion auf diese beiden Identifizierungen entsteht eine ironische Reaktion, die z.B. in einer leichten Belustigung gegeben sein kann.
Kaum ein Chinese wird darin Ironie empfinden. Hitler ist für die meisten Chinesen eine geschichtliche Figur, ein politischer Akteur, der in der Regel nicht als Massenmörder und nicht als Hundefreund wahrgenommen wird und auch nicht ausgehend von dieser Eigenschaft her jeweils eine Identität verliehen bekommt. Noch dazu ist die ethische Perspektive auf die Politik vielen Chinesen fremd, deren Sphäre in der Regel als jenseits von Gut und Böse aufgefasst wird.
Insgesamt ist die Ironie im chinesischen Alltag weder von ethischen Inkongruenzen noch von ästhetischen Konstellationen bestimmt. Die gelebte Ironie ist in der chinesischen Gesellschaft stark von sozialen Konstellationen geprägt, deren weitgehende Unvereinbarkeit eine umsichtige Ambiguität erfordern (alles kann zu jeder Zeit alles bedeuten). So wird die ironische Mehrdeutigkeit einer Sache (Person, Situationen) zu einer Standardwahrnehmung, um die Wirklichkeit zu bewältigen.
Die chinesische Ironiekultur ist wie die Ironie der Romantik auf einen Identitäts – und Horizontwechsel als Regelfall eingestellt und behält sich so stets eine Vieldeutigkeit vor. Anders als in der Romantik handelt es sich dabei jedoch nicht um eine ästhetische Einstellung zum Leben und nicht um Witzigkeit. Stattdessen geht es um Motive der Daseinsvorsorge.
Chinesen zeigen sich in der sozialen Begegnung in der Regel durch ihre Unbestimmtheit im Verhalten aus, durch eine Tendenz zum Noch-nicht-Festgelegten und Vagen. Demnach ist es eine allgemeine Eigenschaft der meisten Chinesen, dass sie sozialen Situationen mit einer Mehrdeutigkeit begegnen, die etwas erst noch zu Bestimmendes an sich hat.
Eine solche Definition ist dabei selbst nicht notwendig vage, weil das, was die Vagheit hervorbringt, einer wohldefinierten Struktur folgen kann. Da das Vage seinen Bedingungen nach selbst gar nicht unklar sein muss, kann also die typisierende Bestimmung chinesischen Verhaltens als mehrdeutig durchaus einen Mehrwert aufweisen.
Die gesuchte Struktur als Mehrwert findet sich in einer Form der Ironie. Diese zeichnet sich dadurch aus, ein und dieselbe Sache plural aufzufassen, also mit mehreren Identitäten auszustatten. Die Ironie bildet sich aber noch nicht aus der Unvereinbarkeit der Mehrfachauffassung, sondern aus der Reaktion auf diese.
1. Ironie als Wirklichkeitsbewältigung
Auf einer Wanderung durch den Odenwald im dichten Nebel ist schwer zu bestimmen, ob man das Tal, dessen Lichter man aus der Ferne sieht, das des Neckars oder das seines linken Nebenflusses ist, der Elsenz. In der Wahrnehmung des Wanderers überschieben sich die beiden Identitätsgebungen und wechseln einander in ihrer Setzung ab. Beides ist möglich, so dass ein schwankendes Identitätsbewusstsein einsetzt, in der mal diese, mal jene Auffassung dominiert (vgl. Husserl 1976, 96-99).
Diese doppelte Identitätssetzung, in der ein Gegebenes sowohl als Neckartal wie als Elsenztal gesetzt wird, kann durch Ironie leichter bewältigt werden. D.h. in der Belustigung darüber, nicht zu wissen, wo man ist, erspart man es sich, ernsthaft beunruhigt zu sein.
Allgemein bestimmt ausgedrückt ist das Gegebene „x“ in der Wahrnehmung sowohl mit der Identität „a“ als auch mit der Identität „b“ in der Wahrnehmung ausgestattet und ergibt in der Reaktion auf diese Differenz die Ironie, die in der ironischen Belustigung besteht. Diese ersetzt das prädikative Urteil, nicht zu wissen, wo man ist, in ein affektives Stellungnehmen, die Ironisierung. Sie ermöglicht es, den Widerspruch und den Zweifel, dass eine Sache zugleich a und b ist, in einer Schwebe zu halten.
Im Alltag sind solche Konstellation oft in der Differenz von Sein zu Sollen zu finden, also darin, nach erfolgter Reparatur des Rasenmähers fünf Schrauben in der Hand zu halten, die im Mäher verschraubt sein sollten. In diesem Fall ist das, was ist, mit dem, was sein soll, nicht identisch und ergibt etwa durch ein unwillkürliches Lachen im Anblick der Schrauben eine ironische Reaktion.
Diese Variante der Ironie bezieht sich auf eine Identitätsverleihung, die nicht dem Grundsatz „tertium non datur“ widerspricht, sondern der Identifizierung von etwas als etwas, das ein anderes sein soll. Die Identitätsdifferenz ergibt also dadurch, das etwas zweifellos ist, was doch etwas anderes sein soll, eine schwache Form des Identitätswiderstreites. Was also zur Ironie führt, ist meistens logisch unpünktlich, da es sich nur auf Identitätssetzungen des wahrnehmenden, denken, handelnden, fühlenden Subjektes bezieht, die mit den Gesetzen der formalen Logik nicht zu verwechseln sind.
3. Ironie als Urteilsenthaltung und Urteilsschwebe
Ironie muss also nicht notwendig Lustigkeitshumor sein oder eine höhere ästhetische Natur aufweisen. Sie kann ihren Sinn in der Bewältigung der alltäglichen Wirklichkeit haben. Die Wirklichkeitsvermeidung ist eine Form dieses Umgangs mit einer problematischen Realität, die eingeklammert, also einer Urteilsenthaltung wird, die phänomenologisch Epoché genannt wird (vgl. Husserl 1976, 65 ff.).
Ein Beispiel hierzu: Abfahrt zum Flughafen, das Taxi wartet unten vorm Haus, die Freundin packt halbherzig ihren Koffer und topft zwischendurch noch schnell einige Geranien um. Beginnt der Urlaub zu zweit auf diese schräge Art, braucht es Ironie zur Besänftigung der Situation. Die ironische Reaktion rettet die Situation durch eine Urteilsenthaltung als Belustigung.
Wenn die Dinge so gar nicht zusammen passen, hilft also die Ironie. Sie ist in der Form der Belustigung eine Urteilszurückhaltung, durch die das Urteil der natürlichen Einstellung nicht vollzogen wird. Das natürliche Urteil wäre so etwas wie „inkompetent und sozial unverträglich“. Weil das aber die Situation verschlechtern würde, braucht man eine mildere Deutung. Sie ist vom Urteilscharakter her nicht mehr begrifflich, sondern ein ironisches Gefühl.
Der Vorteil der Ironie ist es dabei, dass die Inkongruenz der Handlungen der Freundin durchaus gesehen und auch so beurteilt werden, ohne dabei auch den zweiten Teil des Urteils, der persönlichen Unfähigkeit, zu vollziehen. Stattdessen bleibt das ironische Gefühl seinem Wesen nach unentschieden. Diese Unentschiedenheit hat den großen Vorzug, von der ironischen Alltag jederzeit zu anderen Deutungen übergehen zu können. Der Weg von der ironischen Belustigung zu z.B. einem nüchternen, soziologischen Urteil ist genauso kurz wie zu allen anderen möglichen Urteilen.
So entsteht eine Schwebe, die eine komfortable Nähe zu möglichen Urteilsvollzügen herstellt. Das ist praktisch, weil man so nicht so tun muss, als sei da nichts, und zugleich muss man auch nicht die ganze Schwere der Situation feststellen. Die Ironie schiebt das Problem auf, indem es ein Gefühl ist, das zwar unterhaltsam ist, aber zugleich etwas Unpassendes anzeigt. Was also der Sache nach nicht zusammengeht, wird im Gefühl zusammen gebracht, das als Klammer der beiden dient und das Unpassende thematisiert, ohne sich festzulegen.
Phänomenologisch bedeutet Urteilsenthaltung also ganz allgemein einen Abbau der Urteilstätigkeit bzw. ein Nichtvollziehen von (Teil)urteilen. Da die Möglichkeiten eines Teilabbaus der Urteilsfindung unzählbar sind, gibt es entsprechend auch unzählbar viele Urteilsenthaltungen und Urteilszurückhaltungen.
Eine Besonderheit der Ironie ist es also, dass sie nicht nur Urteile inhibiert und in Klammern setzt, sondern auch welche hinzufügt. Das Gefühl der Ironie hat Urteilscharakter. Die Unentschiedenheit der ironischen Haltung ist ebenfalls eine Stellung zur Situation und die leibliche Umsetzung der Ironie ist zudem eine Reaktion auf das Gegebene. Die Urteilsenthaltung besteht also auch in einem Urteilsaufbau, der den Urteilsabbau erst möglich macht.
Formal bestimmt geht es in dieser Situation in der Wahrnehmung des Mannes darum, die Differenz zwischen Sein (Freundin topft Geranien um) mit dem Sollen (Abfahrt mit dem Taxi) so zusammenzubringen, dass das Gegebene in dieser Überschiebung zweier Bedeutungsauffassungen eines Zugrundeliegenden zu einer Entschärfung der sozialen Situation führt, in dem „a“ und „b“ auf Grundlage von „x“ ironisch thematisiert werden.
3. Chinesische Höflichkeit als Ironie
In Analogie zum Umtopferlebnis gilt in der chinesischen Gesellschaft der Volksrepublik die Maxime: siehe, was es zu sehen gibt, ohne das Gesehene in ein explizites Urteil zu fassen. Auf diese Weise werden Konflikte und Peinlichkeiten abgeschwächt. Durch die (temporäre) Urteilsenthaltung plus ironischer Thematisierung als Gefühl wird so effektiv die Diskrepanz, das Unpassende doch im Griff behalten.
Die chinesische Höflichkeit basiert auf einer ironischen Reaktion, durch die das Unpassende durch eine Urteilsenthaltung plus einem ironischen Gefühl als Urteilsplatzhalter dient. Wer so unhöflicherweise die Visitenkarte eines Chinesen gedankenverloren zwischen den Händen zerknittert, der wird vom Kartengeber keineswegs kritisiert. Das Unpassende wird in der ironischen Reduktion seitens des Kartengebers eingeklammert, um das Gesicht zu wahren, das eigene und das des Gegenübers.
Das chinesische Konzept des Gesichtes und seiner Wahrung kann dabei nur funktionieren, wenn das jeweilige Anstößige sehr wohl thematisiert und nicht einfach ignoriert wird. Die ironische Epoché ist so eine aktive Reaktion auf das, was unangemessen ist, obwohl von außen betrachtet nichts geschieht. Das implizite Urteil (das ironische Gefühl) macht das Peinliche handhabbar und sorgt dafür, dass es später thematisiert werden kann. Genau genommen liegt darin eine Verbindung von Urteilsenthaltung und Urteil als ironische Reaktion vor.
Die soziale Lösung eines Problems, das offiziell nicht sein darf, durch die Ironie, bezieht sich dabei nicht nur auf die Wahrnehmung, sondern auch auf das Handeln. So beispielsweise auf den Sprachakt der Entschuldigung, die im chinesischen Alltag oft dazu dient, eine spezifische Botschaft zu überbringen, die vom Angesprochenen nicht kritisiert werden kann.
Die Entschuldigung kann dabei alles bedeuten, eine Anklage genauso gut wie Reue. Wenn sich also der Geber der Visitenkarte dafür entschuldigt, dass die Karte nicht druckfrisch ist, will er damit dem Gegenüber bedeuten, dass er sich unangemessen verhält. Da dies in einer Form der höflichen Entschuldigung geschieht, ist der Kritisierte in der hermeneutischen Falle, wohl die intendierte Bedeutung zu erraten, diese aber nicht dem anderen gegenüber zur Sprache bringen zu können. Auf diese Weise konnte ein delikates Problem durch mehrfache Ironie gelöst oder zumindest kommuniziert worden: die Problematik wurde von allen Beteiligten durch Mehrdeutigkeiten in der Identitätssetzung zum Thema und die Botschaft wurde deutlich.
4. Ironie als Horizontwechsel
Eine andere Form der chinesischen Ironie lässt sich in Anlehnung an die romantische Ironie verstehen: dort gilt, dass die Identität von einem Gegebenen beliebig verändert werden kann, wenn man den Horizont verändert, in dem man das Zugrundeliegende verortet.
Jeder Gegenstand, jede Situation, jede Atmosphäre etc. sind nur denkbar innerhalb eines Horizontes (vgl. Knöpker 2009, 120 ff.). Wechselt dieser, so wechselt auch die Identität des Gegenstandes. Bekanntes Beispiel ist dafür Beuys Fettecke, die von der Reinigungskraft als hygienischer Unfall wahrgenommen wurde, von Beuys selbst aber als Kunstwerk.
Im Horizont der Reinigungsdienstleistungen ist das Urteil, es handele sich um zu Beseitigendes, richtig. Im Horizont der Kunst hingegen ist die Identität der Fettecke ein Kunstwerk. Die jeweilige Gegenstandskonstitution des Zugrundeliegenden wechselt also mit dem Horizont, der Welt, in der die Fettecke verortet wird. Oft ist es weniger bedeutsam, was der Gegenstand ist, als die Zugehörigkeit von diesem zu einem bestimmten Horizont.
Da ein Gegenstand zugleich verschiedenen Horizonten beim Betrachter angehören kann, dient in diesem Fall die Ironie der Vereinbarkeit seiner Mehrfaltigkeit. In der chinesischen Kampfkunst Wing Chun ist so der Angreifer, der mit einer bestimmten Bewegungsfigur den Gegner auf den Boden legen will, vom Angegriffenen doppelt in seiner Identität bestimmt, als Angreifer und zugleich als derjenige, dessen Angriffsbewegung in seiner Kraft dafür genutzt werden kann, seinen Schwung für eine Umwendung des Angriffs zu nutzen, um ihn zu Boden zu schicken. Es gibt also zugleich eine Opfer- und Täterperspektive, in der das Eine (der Angriff) doppelt aufgefasst wird. Diese Auffassung geschieht in einer ironischen Reaktionen, die in diesem Fall nichts mit Belustigung zu tun hat, sondern die Doppeldeutigkeit in einem konkreten Sinne organisiert.
Im chinesischen Alltag dominiert dieser Wahrnehmungsmodus, da dort Wahrheit dort oft nicht als der Sache verpflichtet behandelt wird, sondern als Frage des sozialen Machtgefüges. Nicht nur, dass eine bestimmte soziale Konstellation über den Ausgang einer offenen Frage bestimmt, mehr noch, gibt es keine im Alltag oft keine Vorstellung von einer unabhängigen intersubjektiven oder sogar objektiven Wahrheit.
Daher ist die Wahrnehmung des Sozialen dadurch bestimmt, dass viele Horizonte als gleichwertig gesetzt werden, um so strittige Konstellationen im Griff zu behalten. Was auch immer Thema ist, so ist nicht so sehr das entscheidend, was gegeben ist, sondern welchem Horizont das Gegebene zugeordnet wird. Da dies aber in einem sozialen Prozess der faktischen Macht bestimmt wird, braucht es einen pluralen Horizont der Umsichtigkeit.
Weil also Wert und Wirklichkeit des Einzelnen in der chinesischen Gesellschaft wesentlich von dessen sozialem Kapital abhängen und nicht von dem, was einer für sich ist, wird man zu dem, der man ist, durch die Weisen der Wahrnehmung durch die Anderen. Es ergibt sich eine praktische Metaphysik des Individuums, die als ihre Betriebsbedingung ein ironisches Umgehen mit anderen setzt.
Die Mitmenschen gilt es entweder zu ignorieren, weil sie nicht Zuträger der praktischen Ontologie der Konstitution als Individuum dienen, oder sich ihnen besonders hinzuwenden. Die Indifferenz zeigt sich in der VR China stark in der ausgesprochenen Unhöflichkeit den Vielen gegenüber, also in der U-Bahn, auf dem Markt etc. Es kommt zu einer Polarisierung von Höflichkeit und Unhöflichkeit in Extreme gemäß der Funktion der Mitmenschen.
Innerhalb des Netzwerkes persönlicher Beziehung (Guangxi) kommt die Ironie als radikale Form der Umsichtigkeit ins Spiel (vgl. Huang 2012, 63 ff.). Der Mitmensch kann zu jeder Zeit alles Mögliche bedeuten, also in ganz unterschiedlichen Horizonten erscheinen, als Freund, als partner-in-crime, als Verräter, als Helfender etc., so dass in Wahrnehmung, Fühlen und Handeln all diese Horizonte und damit Mehrfachsetzungen des Anderen nicht nur als einer, sondern gemäß der vielen Horizonte als vieler, ironisch angelegt werden müssen. Dies geschieht wie bei den chinesischen Kampfkünsten, deren Horizontironie keineswegs als Analogie oder als bloße Metapher für das Verständnis der sozialen Ironie in der chinesischen Gesellschaft zu verstehen ist, sondern als ein und dieselbe Weise der Konstitution von Weltwahrnehmung und damit von der Lebenswelt.
Empirisch zugänglich ist die Horizontironie im chinesischen Sozialleben in der Arbeitswelt, genauer in Bezug auf die Arbeitsteiligkeit. Zwar gibt es eine ausgeprägte Hierarchie in der Arbeitswelt, doch ist die Verteilung von Macht nicht mit der von Verantwortung gleichbedeutend, so dass die Arbeitsleistung des Einzelnen in der Gruppe immer in einem Wechselhorizont gesehen wird, ob die eigene Leistung als Schuld erscheint (im Falle des Scheiterns), als unwesentlich (Chef beansprucht Gelingen für sich) oder als Erfolg des Betreffenden.
Die Beurteilung der Arbeitsleistung wird fast vollständig vom sozialen Standpunkt bestimmt, so dass der einzelne Arbeitnehmer diese Zuweisung von Erfolg, Indifferenz oder Misserfolg entsprechend ironisch im Prozess der sozialen Aushandlung wahrnimmt und durch ebenfalls ironische Handlungen in seinem Sinn zu beeinflussen. Die Fluidität der sozialen Situation wird antizipiert und in dieser Vorwegnahme vermöglicht, da in der Vielzahl antizipierter Horizonte eben auch viele mögliche Realitäten stecken. Diese werden entsprechend der sozialen Zuschreibungspraxis real und kaum gemäß dem objektiven Weltgeschehen.
So ist auch Die Arbeitsmentalität des Chabuduo, verstanden als das Ungenügende, das aber doch gut genug ist, also die Arbeitsleistung, die zu wünschen übrig lässt. Sie beruht oft auf der Ironie als dem Wissen, sich später gegebenfalls noch herausreden zu können, da die Arbeitsleistung, so schlecht sie auch objektiv sei, letztlich von der ironisierten Wahrnehmung der Beurteilenden abhängig ist (vgl. Huang 2021, 102).
5. Ironie in der Berg-Wasser-Malerei
Auf einer Tuschezeichnung ist das Gemalte fixiert und unbeweglich. Doch ist der Akt des Malens, sind die Bewegungen des Malers oft noch im Anblick der Zeichnung spürbar. Der damalige Bewegungsschwung teilt sich dem Beobachter dann noch mit und ergibt eine Ironie der Art, dass das Unbewegte zugleich eine Bewegungsanmutung ist. Es ergibt sich eine Differenz zwischen zwischen bewegt und unbewegt und dieses Paradox kann zu einer ironisch-ästhetischen Reaktion führen (vgl. Billeter 1989).
Im Alltag ist das wohlbekannt: wie von selbst neigen ölverschmierte Hände zum Abwischen an weißen Wänden. Schaut man sich später das Resultat in Ruhe an, spürt man in den Ölspuren die Bewegung der Hände. Obwohl schon längst vergangen, hat sich die Bewegungsanmutung in der Schmiererei erhalten und besitzt so einen ästhetischen Mehrwert.
Und ist beim Verputzen der Hausfassade die Hand ausgerutscht, so dass eine schiefe Verputzspur mit schräger Endkurve entstand, ärgert das den Hausbesitzer. Er empfindet die misslungene Bewegung des Stuckateurs als aufdringliche Anmutung, der er sich nicht entziehen kann.
Auch in der chinesischen Berg-Wasser-Malerei ist die Pinselführung als ästhetisches Element wesentlich. Der leibliche Mitvollzug der Malbewegung beim Betrachter überschreitet dabei das Sehen zum Fühlen als Tastsinn hin und wird so zu einer Kinästhese, die ihren Sinn nicht darin hat, den kontinuierlichen Ablauf einer dynamischen Wahrnehmung zu sichern, sondern einen ästhetischen Mehrwert zu erzielen.
Das Ideal der Berg-Wasser-Malerei besteht dabei darin, die leibliche Anmutung nicht auf den Pinselakt des Malens zurückzuführen, sondern im Schaffen einer neuen Wirklichkeit aufgehen zu lassen: die Landschaft soll durch die Pinselbewegung zum Leben erweckt werden, so dass ein Effekt gesteigerter Wirklichkeit entsteht.
Wenn rein die Pinselbewegung nachempfunden wird, so würde das der Landschaft etwas nehmen, weil sie erst dadurch ein Eigenleben führt, dass über die gekonnte Abbildung hinaus geht. Die stilisierte Landschaft gewinnt in dem Maße, wie eine Bewegung in sie gelangt, deren Ursprung nicht empfunden wird, die Bewegung selbst allerdings sehr wohl.
6. Fazit: Chinesische Ironie
Ironie ist als eine plurale Bedeutungsverleihung auf Basis eines einzigen Zugrundeliegenden definiert. Sie meint dabei im Spezifischen die Thematisierung der Differenz zwischen den einzelnen Identitätssetzungen, die einander logisch und/oder lebenspraktisch ausschließen.
Die Frage, was das Typische chinesischen Verhaltens ist, kann damit so beantwortet werden, dass eine allgemeine Qualität der meisten Chinesen das Vage und Unentschiedene aus macht. Die Vagheit ist selbst aber nicht vage, da sie auf der inneren Struktur der Ironie beruht, die einander widerstreitende Identifizierungen miteinander in einen Bezug setzt, um auf diese Weise die Wirklichkeit angehen zu können. Wenn also gilt: Chinesen sind in der Regel vage, unterbestimmt, mehrdeutig im Tun, Lassen und Sprechen, so ist diese Vagheit eine positive Bestimmung, soweit es um die Kultur der Ironie geht.
Ironie kann in diesem Rahmen auch darin bestehen, dass ein seiner Identität nach definierter Gegenstand in eine Mehrfachauffassung geraten kann, wenn es mehr als einen zugrundeliegenden Horizont gibt. Das Generalbeispiel dafür ist die Arbeitsteiligkeit im chinesischen Arbeitsleben.
Weiterhin bedeutet Ironie in der Ästhetik der chinesischen Pinselmalerei die Mehrfachauffassung des Gemalten als bewegt und unbewegt, was in der Wahrnehmung des Betrachters zu einer ästhetischen Ironie des Wohlgefallens und Rätselns führen kann. Die Unlösbarkeit des Streites der Auffassungen wird hierbei nicht gelöst, sondern in Akten der immer neuen Auffassungsüberschiebung gelebt, was zugleich eine Metapher der chinesischen Ironie allgemein ist.
Typische Ironiestile ganzer Völker wie z.B. bei den Ungarn sind dabei soziologisch von einem Mindesthaltbarkeitsdatum geprägt. D.h. auch die Ungarn verändern sich und ihren Umgang mit Ironie, so dass eine phänomenologische Soziologie der Ironie in Ungarn aus dem Jahr 1990 heute so nicht mehr stimmt, da sich der Ironiestil der jungen Ungarn inzwischen deutlich gewandelt hat. Konnte man 1990 noch guten Gewissens in Hinsicht auf die Ironie von „den Ungarn“ reden, braucht es heute eine differenzierte Handhabung.
Der chinesische Ironiestil in der VR China ist jedoch stabiler, da er nicht einer Lebenseinstellung als ästhetischem und historischem Prinzip entspringt, sondern die Bedingung für die Bewältigung sozialer Wirklichkeit ist. Die Homogenität von Festlandschinesen in Bezug auf den Ironiegebrauch hat also damit zu tun, dass die soziale Praxis einen Ironiestil vorschreibt, der nicht dem individuellen Charakter des einzelnen Chinesen entsprechen muss. De facto wird sich jeder Chinese dieses Ironieregimes bedienen, da dessen Existenz sonst sehr erschwert und oft unmöglich werden würde. Die Generalisierung des Ironiegebrauchs in Praxis wie in Theorie hat also seinen guten Grund.
So gilt: die plurale Auffassung eines Zugrundeliegenden führt im chinesischen Alltag oft zu einer Urteilsenthaltung, in der eine Entscheidung des Zwistes der Identifizierungen nicht getroffen wird, doch statt eines Urteils ein informiertes Gefühl auftritt, welche die Diskrepanz zwischen den Auffassungen thematisiert. Das Gefühl besitzt dabei der Regel kein Belustigungscharakter, sondern fungiert als Medium der Erscheinung von Wissen.
Literatur:
Billeter, Jean François (1989): L‘ art chinois de l’écriture, Genève: Skira
Huang, Ning (2012): China-Knigge – Chinakompetenz in Kultur und Business,
München: Oldenbourg
Husserl, Edmund (1976): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Text der 1. und 3. Auflage, neu hrsg. von K. Schuhmann, Husserliana Bd. III,1, Den Haag: Martinus Nijhoff
Knöpker, Sebastian (2009): Existenzieller Hedonismus, Freiburg i. Br / München: Alber