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Phänomenologie als Experiment: Retention und Protention

Retention bezeichnet die soeben erlebte Gegenwart, die als Vergangenheit immer noch eine Präsenz hat. Ein Ton zum Beispiel besitzt damit nicht nur eine Gegenwart in der unmittelbaren Wahrnehmung, sondern auch im Verklingen. Die Retention ist somit ein Fenster in die Vergangenheit, so wie wie die Protention ein Fenster in die Zukunft ist. Protention heißt nämlich, dass die bevorstehende Zukunft schon vorweggenommen wird und damit in der Phantasie eine Präsenz gewinnt.

Protention lässt sich im Experiment leicht erfahren: man gehe in einen lange unbenutzten Keller mit nacktem Oberkörper und spüre, wie die Spinnweben und Spinnen auf der Haut haften. Läuft dann auch noch eine Spinne den nackten Rücken herunter, dann ist die Berührung von ihren acht Beinen wesentlich da, wo sie noch nicht ist. Sie ist sich voraus, weil man sich weit mehr unmittelbar damit beschäftigt, wo die Spinne hingehen könnte und nicht, wo sie gerade ist. Läuft sie das Rückgrat herunter und droht sie, unter die Unterhose zu kriechen, so nimmt dies Gegenwart von der Zukunft noch einmal drastisch zu und weiß endgültig was das ist, die Protention.

Angenehmer ist es, kleine erotische Experimente zu machen. Die erotische Berührung besteht nämlich mehr in Retention und Protention, als in der Gegenwart selbst. Wer mit seinem rechten Zeigefinger den Handteller der rechten Hand abfährt, der wird schon merken, dass zur Mitte hin die Berührung immer weiter außer sich gerät und an protentionalen Leistungen zunimmt. Dasselbe gilt für die Achselhöhlen und die Innenseiten der Schenkel, bei denen ebenfalls eine gesteigerte und leicht angenehme Unruhe ausbricht.

Die Erfahrung mit der Spinne hat dabei schon viel mit der Erotik zu tun, denn wenn es scheint, dass sie unter die Unterwäsche krabbelt und es besonders unangenehm wird, dann gilt das auch für fremde Hände, die sich nahe am Schritt bewegen. Wer direkt hingreift und den Slip oder die Unterhose bloß als letztes Hindernis begreift, der greift direkt daneben, denn Erotik besteht gerade darin, die Berührung aus der Unmittelbarkeit in Retention und Protention zu überführen. Wer also lange an den Rändern der Unterwäsche manövriert und nur leichte Überschreitungen darunter vornimmt, der hat mehr von der Zweisamkeit.

Die exakte Rolle der Retention bleibt dabei aber noch zu bestimmen. Sie besteht in der Erotik darin, dass die Lüste von gerade eben nicht einfach vergehen und so stark abebben, dass sie nicht mehr da sind. Vielmehr bleibt von ihnen immer ein kleiner Schwund und die Summe von dem was einmal war und immer noch ein klein wenig ist, ergibt die so genannte Erotisierung, die eben wesentlich darin besteht, das sich Restbestände an Berührungen erhalten haben und den ganzen Leib aufladen. Die Vergangenheit bildet dann ein erotisches Kapital aus eigentlich schon verbrauchten Lüsten. Da diese Lüste aber jeweils einen retentionalen Schweif besitzen, ist, wird und bleibt es hintergründig angenehm erotisch.

Fazit: die Gegenwart als Urimpression besteht mehr aus dem, was noch nicht ist und aus dem, was gerade eben schon war, als aus der unmittelbaren Präsenz. Bevorzugte Bereiche des Experimentierens mit Protention und Retention finden sich dabei in der Musik, in der Erotik und im Kampfsport. Dort spielt das Kommende ein weit größere Rolle als das Aktuelle. Wer in diesen Bereichen kleine Erfahrungen macht, kann sich die abstrakte Bedeutung der beiden passiven Synthesen restlos erschließen.

Sebastian Knöpker