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Phänomenologie als Experiment: Synästhesie

Synästhesie ist die Synthese verschiedener Sinneswahrnehmungen zu einem Gesamterleben, in der die einzelnen Sinne mehr als die Summe bilden. In der Synästhesie kann ein Sinn auch das Lager wechseln und zum Beispiel vom Riechen zum Schmecken werden. Oder es erzeugt eine sinnliche Assoziation, in der etwa ein Ton als grün erlebt wird.

Am besten schmeckt die Synästhesie, wenn man zum Nachtisch einen Himbeertraum isst. Ein Himbeertraum besteht aus Sahne, Baiserkrümel und Himbeeren, spricht dabei Tasten, Schmecken und Riechen an und vereinigt sie zu einer Lust, in der die einzelnen Sinne eine neue Form der Sinnlichkeit bilden. Sie wird Synästhesie genant und diese Mitempfindung lässt sich durch einen Blick darauf verstehen, was an sinnlichen Zutaten alles in das Dessert kommt.

Der Himbeertraum besitzt ein gutes Mundgefühl, spricht also den Tastsinn lustvoll an. Dabei ist zu unterscheiden, was angenehm auf der Zunge liegt und was unter die Haut geht. Die Sahne und die leicht aufgeweichten Baiser-Brösel fühlen sich im Mund gut an, weil ihre Textur gerade die richtige Mischung aus Weichheit und Widerstand hat. Aber es gibt noch eine andere Lust an der Weichheit, die jeder vom Anblick schlafender Kätzchen. Die kleinen Katzen liegen eng aneinander geschmiegt da und ihr Anblick lässt den Leib weich werden. So ein Weichmacher ist auch der Himbeertraum, der unter die Zunge geht und den Leib angenehm verweichlicht.

Eine gute Textur meint also schon einmal zwei verschiedene Sinnlichkeiten, den Tastsinn und die Fähigkeit, den eigenen Leib als hart, weich, als ausgebrannt oder gummiartig zu empfinden. Schmeckt der Nachtisch richtig gut, so kommen diese beiden Qualitäten zusammen und ergeben eine Synästhesie, bei der man nicht mehr sagen kann, was von wo her stammt.

Der Himbeertraum hat nicht nur eine angenehme Textur, er schmeckt auch noch gut, nach Vanille, Zucker, Fett und Himbeere, so dass zu dem synästhetischen Duo noch eine weitere Qualität. Schaut man sich den Geschmack näher an, so merkt man schnell, dass im Schmecken das Riechen eine große Rolle spielt. Wer sich kurz die Nase zuhält und eine Himbeere isst, der wird nur noch die Textur und den sauren Geschmack behalten, während der eigentliche Fruchtgeschmack verschwunden ist. Denn der bildet sich erst retronasal, also dadurch, dass aus dem Mundinnenraum Gerüche in die Nase hochsteigen, dort gerochen werden, um dann dem Geschmack zugeschlagen zu werden. Dasselbe gilt auch für die Vanille, bei der ohne Nase geschmacklich gar nichts bleibt.

Synästhesie, so zeigt sich, lässt sich also ohne viel Worte essen und verstehen. Die kleine Beschäftigung mit dem Himbeertraum macht die Dimensionen der Mitempfindung deutlich. Es handelt sich um die Einheit verschiedener Sinne und Sinnlichkeiten, die als Summe mehr als ihre Einzelteile bilden. Auch der Wechsel von einem Sinn zum anderen kann erlebt werden, so wie die Einheit von Affektivität und Wahrnehmung in der Phantasie. Anders ausgedrückt schmeckt der Himbeertraum nicht von sich aus, sondern wird erst zum Geschmack durch Mund, Kopf, Nase und Bauch gemacht. Synästhese ist also phänomenologisch eine passive Synthese der zugrundeliegenden hyletischen Daten.

Sebastian Knöpker