Der Mensch hat nicht nur ungelöste Konflikte, die vor sich hin köcheln und Energie kosten. Oft gibt es auch das Problem fehlender Konflikte, also mangelnde Auseinandersetzungen innerhalb eines Menschen. Ein solcher Mensch müsste Konflikte haben, um mit sich selbst ausreichend in Kontakt zu kommen.
Ein Anathema ist ein kirchlicher Bannfluch. Die sanfte Form dieser Verbannung ist der Ausschluss eines Kirchenmitglieds aus dem kirchlichen Kreis. Der Ausgeschlossene wird dann nicht verfolgt und nicht bedrängt, sondern wie Luft behandelt. Anathema bedeutet dann ein unbedingtes Nicht-mehr-Beachtetwerden als radikale Freiheit.
Das Anathema lässt sich gut auf die Selbstverhältnisse des Menschen übertragen. Ein einfaches Anathema ist der Mensch als Sitzsack, also als einer, der auf sich sitzt und sich wie ein Koffer durch die Gegend schleppt. In dem Fall sind Leib und Seele nicht in Konflikt, sondern laufen nebeneinander her.
Auch innerhalb des Leibes kann es zu Anathemata kommen. Klaglos akzeptieren dann bestimmte Leibglieder, dass sie andere mitschleppen müssen. Sie beschweren sich nicht, sondern erledigen die Aufgabe wie ein Kamel. Erst nach langer Zeit kommt es zum Konflikt, wenn die Gesundheit nicht mehr mitmacht.
Vogelfreiheiten gibt es auch im Nebeneinander der Fakultäten des Urteilens. Viele Menschen kennen kein eigenständiges Urteilen, sondern nehmen die Umstände so hin, Beispielsweise suchen sie sich nicht die Menschen für ihr Leben aus, sondern akzeptieren in Analogie zur Duldungsstarre Zufallsbekanntschaften als sogenannte Befreundungen.
Sie machen sich nicht die Mühe, in sich Konflikte auszutragen, wen sie überhaupt in ihr Leben lassen wollen und wen nicht. Sie besitzen kein eigenes Urteil und führen ein Leben ohne eigene Kriterien der Wahl des sozialen Umgangs. Ihre Befreundungen und Entfreundungen verlaufen ohne innere Beteiligung, ohne kritisches Stadium der Entscheidung.
Manche Menschen sollten also nicht deswegen zum Psychiater gehen, weil sie Konflikte haben, sondern weil sie keinen inneren Streit kennen. Dieser Mangel an Friktion führt zur Selbstversandung und zu der Progression, immer weniger ein Typ zu sein. Die Formatlosigkeit ist ab einem bestimmten Stadium der Entwicklung auch nicht mehr rückgängig machbar, sodass der Betroffene den Rest seines Lebens ohne Konflikte verbrauchen muss.
Sebastian Knöpker