Schicksalsgemeinschaften haben einen schlechten Ruf. Beim Assam-Tee werden sie zu einem Geschmacksprinzip, versetzen den Tee in Wellenform und machen ihn so erst interessant.
Das Ungleiche vor dem Hintergrund des Gemeinsamen zu schmecken ist eines der Geschmacksprinzipien des Assam-Tees. Man kann es auch das Gesetz des gemeinsamen Schicksals nennen. Es besteht darin, das eigentlich Ungleiche vor dem Geschmackshintergrund durch eine gemeinsame Tendenz abzuheben.
Durch minimale Geschmacksverschiebungen ins Bittere oder ins Erdige werden so all die Aromen zu einer Einheit gefasst, die auf den bitteren der erdigen Impuls ansprechen. Dadurch heben sie sich plastisch vom Rest ab.
Die erdhafte Geschmackstendenz wirkt aber nur kurze Zeit und vergeht wieder, wodurch die Plastizität des gemeinsamen Schicksals auch wieder nivelliert wird. Der Eindruck einer Welle ist die Folge. Einige Assam-Tees wiederholen die Geschmackimpulse in kurzer Folge und erhalten so einen wellenartigen Charakter.
Das Gesetz des gemeinsamen Schicksals wurde von Max Wertheimer formuliert (Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt, 1923) und besagt, dass z.B. eine Reihe optisch unterschiedlicher Elemente als zusammenhängend wahrgenommen werden, wenn sie demselben Bewegungsimpuls unterliegen.
Das gilt besonders, wenn ein gegenläufiger Impuls der Bewegung andere Elemente erfasst, so dass zwei Bewegungsfraktionen entstehen. Dreiecke, Vierecke und Fünfecke, die so nach oben wandern werden eine Fraktion ergeben. Rote, grüne und blaue Kreise unterschiedlicher Größe eine andere Fraktion, wandern sie nach unten.
Wer die Geheimnisse des Tees entschlüsseln will, muss auf das Gesetz des gemeinsamen Schicksals zurückgreifen. Denn der wellenartige Charakter einiger Tees bedient sich der gemeinsamen Schicksalsbildung verschiedener Aromen nur dazu, um sich plastisch zu ergehen. Es kommt also nicht auf den Geschmack an, sondern auf die Plastizität des Geschmeckten.
Diese Abhebung vom Ganzen wiederum lässt sich über die Prinzipien der Gestaltpsychologie erfassen, was durch einen analytischen Zugang, der aus Einzelelementen die Plastizität folgern will, keinen Erfolg haben kann. Max Wertheimer hat also durch sein Gesetz des gemeinsamen Schicksals eine Methode geliefert, auf den ersten Blick nicht analysierbare Phänomene doch zu Teilen zu erfassen.
Sebastian Knöpker