Klarer Fall: der Mensch mit kleptomanischen Einschlag, der im Schuhgeschäft und auch sonst nichts mitgehen lässt, fühlt sich moralisch dem Nichtdieb ohne Tendenz zum Klauen überlegen. Mehr noch fühlt er darin einen eindeutigen Zugewinn an Identität. Denn was er in sich als wirksame Kraft erfährt, bleibt unwirksam, so dass er darin mehr er selbst ist.
Wer einen seelischen Schatten besitzt und ihn erfolgreich in eine Blase versetzt, ist vom Charakter her reiner als der unbescholtene Mensch. Der Vorteil einer fragwürdigen Eigenschaft, die man spielend unter Kontrolle hat, ist also der Gewinn an Identität und Fundament. Denn das Gefühl man selbst zu sein beruht wesentlich darauf, etwas nicht zu sein, was man durchaus in Klammern auch ist.
So fundiert die souverän beherrschte Neigung den in Versuchung geführten Menschen. Die in Schach gehaltene Tendenz sorgt für einen sicheren Stand auf sich selbst, also für das Gefühl, fundiert zu leben. Das Selbstverhältnis des verhinderten Diebs fundiert somit alle anderen Verhältnisse im Selbst mit. Weil man nicht stiehlt, obwohl man vom ureigenen Wesen dazu aufgerufen wird, lässt sich auf dieser ärgerlichen kleinen Neigung aufbauen. Was man sonst noch für Eigenschaften hat, wird durch die zurückgehaltene Qualität fundiert, weil man diese erfolgreich in sich negiert.
Diese Verhältnisse von „fundiert“ zu „fundierend“ zu klären ist Aufgabe der Philosophie. Sie gibt dabei ihre Weisheit nicht von oben nach unten weiter, sondern beginnt in der Deskription im Alltag (also ganz unten). Menschen mit problematischem Einschlag, die sich bemeistern, lassen sich auf diese Weise phänomenologisch in ihrem Gewinn an sicherem Stand beobachten.
Die einfache Beobachtung wird dann in die Abstraktion übersetzt. Es gilt: problematische Tendenzen wie die Kleptomanie, die aus der inneren Haltung doch nicht praktiziert werden, bringen einen Gewinn an Fundierung des eigenen Selbst hervor, sofern diese Urneigung als moralisch verwerflich vom Subjekt selbst empfunden wird. Noch allgemeiner heißt das: durch das, was man ist und durch kontrollierte Behinderung dann eben doch nicht ist, kann man einen Identitätsgewinn erzielen.
Ein höherer Wert ist dadurch der Sache nach nicht gesetzt, da der Unwert bloß verhindert wird. Doch die Beobachtung zeigt, dass viele Menschen dadurch ein Gefühl des moralischen Wertes und eben auch des gesteigerten Empfindens der Sichselbigkeit empfinden.
Für die Philosophie ist diese Wertlosigkeit unwichtig, da es ja ihre Aufgabe ist, Fundierungsverhältnisse der Selbstgebung aufzuweisen. Die Frage lautet: was setzt sich so in ein Verhältnis zu sich, dass nachfolgende Selbstverhältnisse dadurch fundiert werden. Eine Teilantwort lautet: eine dem eigenen Wertempfinden nach unlautere Neigung zu beherrschen, so dass sie eine stete Tendenz ohne Wirksamkeit über sich hinaus bleibt, leistet diese Fundierung.
Die Teilantwort beschreibt wie relative Aspekte des Selbst so zueinander in Bezug gesetzt werden, dass sie sich gegenseitig als absolut bestimmen. Was je für sich unbestimmt positioniert ist, das gewinnt eine absolute Position, indem es sich gegenseitig in Relation versetzt. Es handelt sich also um eine ausgesprochen relative Phänomenologie, die doch absolute Ergebnisse erbringt.
Sebastian Knöpker