Im-Griff-Behalten ist ein terminus technicus der Phänomenologie und bezeichnet den Zugriff auf das soeben Erlebte als Retention. Angenehm wird das beim Essen von Tortelli di Zucca, wo die verschiedenen Füllungen der Tortellini um Kürbis, Mostarda und Amaretti nicht nur nach und nach geschmeckt werden, sondern auch als retentionale Summe dem gerade aktuellen Geschmack zukommen. Was in der Mostardafüllung gerade geschmeckt worden ist und eigentlich vorbei sein müsste, wird in der darauffolgenden Kürbisfüllung immer noch mitgeschmeckt.
Es bildet sich eine Überfülle durch die Einbringung der retentionalen Reihe der vorhergehenden Geschmackvarianten der Tortellini. Das Besondere an dieser Retention ist es, dass sie nicht nur vergeht und dem Zeitfluxus des Vergessens nachkommt, sondern noch im Griff behalten wird.
Diese Disponibilität meint ein aktives Zugreifenkönnen auf die Retentionen und im Falle der Tortellini tatsächlich ein Reaktualisieren auf die Weise, als dass die retentionale Reihe zusammen mit dem aktuellen Schmecken eine sinnliche Einheit bildet. Im-Griff-Behalten bezeichnet also in diesem Fall eine Vergangenheit, auf die das schmeckende Subjekt noch einen aktiven Zugriff behält und ihn auch zu Teilen ausführt.
Dieses Fungieren der Retention kann auch Störungscharakter annehmen. Der ewige Student, der schon seit zwanzig Semestern seine Zwischenprüfung nach der alten Magisterordnung ablegen will und das schon dutzende Male versucht hat, wird eine unangenehm lebendige retentionale Reihe des Im-Griff-Behaltens seiner vorherigen Fehlversuche empfinden. Was einmal war, ist erstaunlich rege in seinem Bewusstsein anwesend.
Funktional wirkt das Im-Griff-Behalten beim Polizisten, der an einem Einlass zu einem Festival innerhalb einiger Minuten hunderte Menschen sieht und aus dieser retentionalen Reihe heraus einen Zugriff auf die gesehenen Gesichter bewahrt. Der Zugriff zeigt sich dann, wenn in der Gegenwart ein Individuum auftritt, das zu einem Menschen zugeordnet werden kann, den er vor zwei Minuten gesehen hat. Also: ein Trickbetrügerpaar, vage von Fotos bekannt, wird auf diese Weise entdeckt. Zwei Einzelerscheinungen je in der Masse werden als Duo bestimmt. Die Vergangenheit erweckt diese Assoziation als Leistung des Im-Griff-Behaltens.
Ein Sonderfall des Im-Griff-Behaltens findet sich bei der Reiseerinnerung. Geht der Urlaub zu Ende, so kann sich hier aus dem längst Vergangenen eine retentionale Reihe aus dem Vergessen heraus aufbauen, die ein Erinnern bedeutet, das nie explizit wird. Was ich in den letzten zehn Tagen erlebt habe, kann ich so als Summe der impliziten Erinnerungen retentional reaktualisieren und damit alles auf einen Schlag „erinnern“. Das gelingt aber nur, wenn die Retentionen als Beinahe-Erinnerung im Griff behalten werden, d.h. nicht nur Daten aus der Vergangenheit bleiben, sondern sich zum Urlaub als Erlebnisganzen verhalten, sich also ordnen und bilden.
Im-Griff-Behalten wird von Husserl in den Analysen zur passiven Synthesis erläutert. Für ihn ist es ein fungierendes Moment in der Organisation des Zeitstroms. An anderer Stelle wird er es für die eidetische Variation brauchen. Den hedonistischen Charakter hat er jedoch auch in einigen Notizen zur Aufmerksamkeit bemerkt. Ganz richtig, Im-Griff-Behalten macht Spaß und eröffnet hedonistische Horizonte.
Sebastian Knöpker