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Im türkischen Supermarkt (IX)

Wer in den türkischen Supermarkt geht, betreibt Ortsveränderung und geht vom Hier zum Dort. Das Dort wird zum Hier, kommt man im Supermarkt an, aber für einen Deutschen wird es anders zum Hier als für einen Türken.

Katzen schaffen es im Vergleich zu Menschen viel einfacher aus dem Ort, an dem sie gerade sind, auch ein echtes Hier zu machen. Eine Katze, die lässig vor einer gut frequentierten Eingangstür liegt, befindet sich dort mit vollem Recht, d.h. sie hat ihren ausgezeichneten Ort gefunden und ist nicht nur einfach da.

Ihr Hiergefühl gibt ihr das Recht, sich gestört zu fühlen, nicht jedoch daran zu denken, dass sie stört. Viele Menschen gehen auf die Katze ein, weil ihr Hiergefühl sich auch atmosphärisch mitteilt: Sie spüren das Recht der Katze auf diesen Ort, weil sie ihn als Hier empfindet.

Umso mehr sticht es ins Auge, wenn eine Katze ihren Ort nicht findet und unsicher ist: Sie fällt dann aus dem Raum-Zeit-Gefüge heraus, weil sie keinerlei Hier im Hier findet. An einem Ort zu sein und ein Hier zu haben sind also zweierlei Dinge. Man kann vor Ort sein, diesen aber als Dort empfinden, also als beliebigen Ort, der austauschbar ist.

Türken haben die Tendenz, nicht nur in der türkischen Sprache zu agglutinieren, sondern auch im echten Leben aneinander zu kleben. Sie neigen zur Haufenbildung und man sieht nur selten einen einzelnen Türken, sondern zumeist Türken im Plural.

Der Grund dafür besteht darin, dass sie in der Ballung an einem Ort ein Hiergefühl entwickeln. Irgendein Ort wird dadurch, dass noch andere Türken da sind, zu mehr als einem Standort: er wird zu einem Stück gelebten Raum, zu einem Hier, demgegenüber alle anderen Ort zum Dort werden.

Der türkische Supermarkt bietet entsprechend eine gute Möglichkeit ein Hier zu erleben. Damit wird er aber auch politisch, weil das Hiergefühl à la turc in der Regel ein nationales Gefühl ist. In ihm wird die Türkei inkarniert und der Supermarkt zu Türkiye. Der Alptraum der AfD lässt sich daher in den meisten türkischen Supermärkten direkt erleben: Ein Ort innerhalb von Deutschland wird zur türkischen Enklave.

Im Vergleich des Hier im türkischen Supermarkt von vor dreißig Jahren hat sich das Hier Alaturka auch tatsächlich stark verändert: es hat sich nationalistisch aufgeladen. Es ist kein Hier (Türkei) im Dort (Deutschland) mehr, sondern ein Hier, das territoriale Ansprüche stellt.

Verglichen mit einem russischen Supermarkt ist das russische Hier zeitlich bestimmt nostalgisch aufgeladen. Das Hier ist bei vielen Russen damit temporal aufgeladen und politisch wenig brisant, obwohl er auch einen sowjetisch-russischen Imperialismus beinhaltet, aber eben einen, der trotz aller Aktualität Nostalgie auslöst. Das türkische Hier im Supermarkt ist dagegen auf eine Gegenwart und Zukunft bezogen, die durchaus Ansprüche stellt. Die gelebte Topographie des türkischen Supermarktes ist ein Stück deskriptiver Phänomenologie, die nonchalant ein brisantes Thema zur Sprache bringt.

Sebastian Knöpker