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Nietzsche und Henry

Michel Henry interpretiert Friedrich Nietzsche als einen Vorgänger der Lebensphänomenologie, was die Rolle der Affektivität und der Immanenz angeht. Auch wenn Nietzsche beide Themen in seinem Werk nicht explizit zum Ausdruck bringt, „sondern sich vielmehr von ihnen tragen lässt“, so Henry (GPS 249), lässt sich dennoch anhand von Nietzsches Konzept des Willens zur Macht zeigen, dass es mehr als Parallelen zwischen Henry und Nietzsche gibt.

Wie für Schopenhauer ist für Nietzsche das Leben als Wille bestimmt. Doch der Wille ist bei Schopenhauer ontologisch durch einen Mangel gekennzeichnet: was nicht ist, bestimmt das Wollen. Nietzsche hingegen fasst das Wollen zunächst als etwas Positives auf. Denn um etwas, was nicht ist, wollen zu können, muss der Wille selbst sein (KSA 5.287, KSA 5.339). Das Wollen als Manifestieren des Fehlenden kennt demnach zwei Aspekte, nämlich das Fehlende und die Manifestation des Fehlenden, welche selbst in reiner Positivität bestimmt ist. Dasselbe vertritt Henry, indem er unter Rückgriff auf phänomenologische Begriffe den intentionalen Gegenstand von der Weise seines Sich-Erscheinens unterscheidet. In Génealogie de la psychanalyse untersucht Michel Henry explizit diese Parallele zwischen Lebensphänomenologie und Nietzsches Werk. Er schreibt: „Der Ausgangspunkt im Willen zur Macht ist die Macht selbst.“ (GPS 251). Das hebt Nietzsche von Schopenhauer ab, dessen Wille ein reiner Mangel ist und sich als solcher im menschlichen Individuum manifestiert. Schopenhauer entspricht demnach nicht Henrys Forderung nach einer Immanenz, derzufolge sich das, was sich an sich zeigt, nicht einer mittelbaren Wirkung etwas außerhalb von ihm stehenden verdanken kann. Diese Immanenz findet sich nach Henry in Nietzsches Willen zur Macht: „Der „Wille“ bezeichnet nichts anderes als die Expansion dieser Kraft und ihre Entfaltung. Diese Entfaltung ist möglich in, durch und ausgehend von dieser Kraft. Sie ist eine Selbstbewegung.“ (GPS 251) Dabei begegnet der Wille zur Macht in seinem Wollen einer größeren Macht als er selbst, nämlich der Schwäche, nicht von sich in seinem Wollen ablassen zu können. Die Macht, zu sein und in diesem Sein zu wollen, kann nicht ihr eigenes Sein bestimmen. In Genealogie der Moral bringt Nietzsche genau das treffend zum Ausdruck: „Wo entginge man ihm, jenem verhängten Blick, von dem man eine tiefe Traurigkeit mit fortträgt, jenem zurückgewendeten Blick des Mißgeborenen von Anbeginn, der es verrät, wie ein solcher Mensch zu sich selber spricht – jenem Blick, der ein Seufzer ist! „Möchte ich jemand anders sein!“ so seufzt der Blick: „aber da ist keine Hoffnung. Ich bin, der ich bin: wie käme ich von mir selber los? Und doch – habe ich mich satt!“…“ (KSA 5.261) Die Schwäche, sich nicht von sich als ursprüngliche Kraft, man selbst zu sein, lösen zu können, führt dann auch dazu, dass der Wille sich in einer beständigen Negation seiner selbst als Vollzug lebt. Daher gilt für den Willen: „Eher will er noch das Nichts wollen als nicht wollen“ (KSA 5.132).

Für Henry ist diese Lebensselbstbindung Ausdruck einer fundamentalen Passivität, die jedem Wollen und jedem Handeln als Selbststeigerung zugrunde liegt. Könnte der Wille zur Macht von sich selbst ablassen und könnte er sich über oder das Leben, das er ist, stellen, so fehlte ihm eine entscheidende Qualität sich zu manifestieren. Denn für Henry beruht jedes Sich-Zeigen darauf, ein Ineinander von Freude im Sich-Offenbaren und Erleiden als die Unmöglichkeit zu sein, in Distanz zu sich zu treten. Nietzsches Passivität ist dabei jedoch nicht transzendental zu verstehen, wie die von Henry. Überhaupt entwickelt Nietzsche keine innere Struktur des Sich-Erscheinens als Charakteristikum des Lebens. Vielmehr legt er die Bestimmungen des Lebens zu Grunde, also seinen Vollzugscharakter als Werden und nicht als bloßes Vorhandensein, seinen Charakter des Steigerungswillens und seine affektive wie leibliche Natur. Weil Nietzsche also keine Fundamentalontologie entwickelt, lässt er sich nur bedingt mit Henrys Phänomenologie vergleichen. Die Möglichkeit eines Vergleichs erschien Henry dabei in seinem Frühwerk gar nicht gegeben, wo er Nietzsches Philosophie als „romantischen Vitalismus“ (PPC 290) bezeichnet. Diese Abqualifizierung hat er jedoch in seinen späteren Schriften revidiert (u.a. BAR, GPS), indem er zeigte, dass Nietzsches Auffassung vom Willen als Leben in wesentlichen Punkten mit seiner Auffassung übereinstimmt.

Zu diesen Übereinstimmungen zählt auch die Bestimmung der Affektivität als ontologischer Grund des Lebens. So schreibt Nietzsche etwa im Nachlass der 80er Jahre: „Der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos – ist die elementarste Tatsache, aus der sich erst ein Wirken ergibt“ (KSA 12.114). Ähnliche Aussagen durchziehen sein ganzes Werk, bleiben jedoch im Bereich der bloßen Feststellung. Interessanter für Henry ist es daher, Nietzsches Bestimmung dieser jedem Leben zu Grunde liegenden Affektivität als eine Einheit von Sich-Erfreuen und Sich-Erleiden aufzunehmen. Sowohl bei Nietzsche wie bei Henry werden Lust- und Unlustgefühle nicht als einander entgegengesetzt verstanden, sondern als affektive Tonalitäten des Pathos, welches eine Einheit gerade auf Basis dieser Tonalitäten ist. Dabei ist diese Identität bei Nietzsche so zu verstehen, dass die Intensität des Daseins nicht nur ein Mehr oder Weniger an Sein ausmacht, sondern selbst eine affektive Größe ist, welche als solche eine Lust am Dasein ausmacht, welche auch jede Unlust umfasst. Die Unlust steht dabei deswegen der Lust nicht gegenüber, weil Nietzsche eben diese bestimmte Daseinslust, die in der Daseinsintensität besteht, meint: „Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls […] Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen; der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend […] “ (KSA 6.160). Eine solche Lust in und nicht an der Intensität verweist dabei auf Henrys Begriff der Historialität. Dieser meint den Übergang von Sich-Erleiden in Sich-Erfreuen und umgekehrt nicht als eine Reaktion auf das, was im Horizont der Welt gelingt oder misslingt, sondern als Vollzug der Affektivität selbst. Praktisch ausgedrückt ist das Absehen von den intentionalen Gegenständen und deren Derivaten zugunsten des Nichtintentionalen, welches eben die Erscheinung der Welt ermöglicht, ein Rückbezug, der die innere Gesetzmäßigkeit der Affektivität voll zum Zuge kommen lässt. Dieses „zum Zuge kommen lassen“ wurde von Nietzsche als Amor fati bezeichnet. Diese Liebe zum Schicksal sagt ja auch noch zu den „fremdesten und härtesten Problemen“ auf der Basis, das frei zu legen, also zu fühlen, was dem jeweiligen Problem als Grund von dessen Sich-Erscheinen vorausgeht. Dieses unbedingte Vertrauen in das Leben findet sich auch bei Henry, der indessen deutlicher herausstellt, dass es hier nicht um ein Hoffen geht, sondern um einen Rückgang auf das, was jedes Leiden unter einem konkreten Problem ermöglicht. Es handelt sich um den Bezug auf eine Ebene, welche der intentionalen Ebene im ontologischen Sinn vorausgeht.

Sebastian Knöpker

Literatur

a.) Werke von Michel Henry

AuS Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen

BAR Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik

CHW Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung

EM L’essence de la manifestation, (Band I/Band II), 1963

GPS Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu

b.) Nietzsche, Friedrich (1988): Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Bänden,

neu durchgesehen in der 2. Auflage, hg. von Georgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin, New York

-, Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, KSA 5

-, Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-

Dithyramben, Nietzsche contra Wagner, KSA 6

-, Nachgelassene Fragmente 1885-1887, KSA 12

-, Nachgelassene Fragmente 1887-1889, KSA 13