Wie wird man zum Künstler? Dazu braucht man folgende Zutaten: eine Abstellkammer, einige Puppen aus Porzellan, Ernie aus der Sesamstrasse und einen ausgestopften Fuchs. Ungeordnet kommen sie in die Kammer und bei nächster Gelegenheit fällt der Blick mit ästhetischem Mehrwert auf die Puppen, wenn man eigentlich nur den Besen holen möchte.
Dabei geht es nicht um das Unheimliche, das in dem Soziotop der Abstellkammer lauert. Der unheimliche Eindruck ist noch keine Kunst und ist als schockierende Unterhaltung für Zwischendurch eher im Bereich der Geisterbahn auf der Kirmes zu Hause.
Die Ästhetik kommt dadurch zustande, dass jede Puppe einen Überschuss an Bedeutung im Hinsehen gewinnt und diese Superplusreihe noch einmal als Summe und Einheit aufgefasst wird. Zunächst einmal treibt „das Leblose die Ähnlichkeit mit dem Lebendigen zu weit“ wie Freud den Bedeutungsüberhang im Anblick von Puppen bezeichnet. Die Porzellanoberfläche eines Puppengesichtes bleibt also nicht ein bloß strukturiertes Relief, die einem Gesicht ähnelt, sondern wird im Anblick im ersten Moment zu einem lebendigen Wesen aufgefasst.
Wo eigentlich nur ein Porzellangesicht ist, wird in dessen Anblick gleich ein ganzer Mensch gesetzt. Dieses Überplus an Bedeutung schwankt dabei zwischen Mensch und Ding hin und her und findet seine relative Ruhe schließlich in der Objektauffassung, die den Sieg davon trägt. Da es aber kein endgültiger Sieg ist, streiten sich die beiden Auffassungsweisen weiter, so dass eine latente Unruhe bleibt.
Meine Besenkammer daheim ist mit Ernie, Kermit, Bert, einem ausgestopften Fuchs und drei Porzellanpuppen ausgestattet. Die Puppen sind ein Überbleibsel meines auf beschädigte Ware abonnierten Liebeslebens und erinnern mich an eine Frau, die in Kuscheltieren und Porzellangesichtern ihre überschüssige Menschenliebe investierte, die echte Menschen nie stabil zu spüren bekamen.
Sehe ich diese Puppen, fasse ich sie immer mehrfach auf und sehe in ihnen Kunstwerke, die zwischen Mensch und Puppe oszillieren, so wie auch das Substitut als Trostspender. Diese Apperzeptionen um Gefühlsadressat, Kunst und Mensch bilden eine Einheit, zu der noch weitere Vielfachauffassungen kommen. Denn der Fuchs ist ein Geschenk eines Jägers, der mir sein ausgestopftes Opfer schenkte und mich immer an diesen netten Starkstromalkoholiker erinnert. Der Fuchs ist also in meinem Blick auf ihn assoziativ mit dem Jäger verbunden, der sich so in die Wahrnehmung hineinkompliziert.
Die Stoffpuppen aus der Sesamstraße, die Porzellanpuppen und der Fuchs ergeben je für sich Mehrfachauffassungen und werden zugleich als Kunst. Comic, Seelenschaden, Mensch, Puppe etc. aufgefasst. Dieser Überschuss im Vergleich zu ihrer nüchtern aufgefassten Bedeutung wird noch einmal in dem Ensemble der Puppen zu einer Einheit der vielstimmigen Apperzeptionen und Appräsentationen in meinem Blick vereinigt. Was schon jeweils eine plurale Auffassung von ein- und demselben Gegenstand ist, wird in seinen Differenzen zu den anderen Mehrfachauffassungen also noch einmal als Gesamt der Apperzeption beseelt. Erst in dieser Beseelung ergibt sich der ästhetische Eindruck, da alle Apperzeptionen zusammen genommen das Inkongruente als Kongruentes der Kunst ergeben. Was so gar nicht zusammen passt, erfährt eine Auffassung als Kunst.
Es handelt sich also um eine Sonderform der Ironie, die phänomenologisch betrachtet darauf beruht, ein- und dieselbe Sache mehrfach aufzufassen und in der Differenz der einander widerstreitenden Auffassungen eine Apperzeption der Apperzeptionen zu empfinden.
Klassisches Beispiel dafür ist der Massenmörder Adolf Hitler, der als Hundefreund posiert. Derselbe Hitler wird hier vom Betrachter als X und als Y aufgefasst, nur dass beides sich nicht miteinander verträgt und die unauflösbare Differenz in die Apperzeption der Ironie auf Basis der beiden Auffassungen mündet. Die doppelte und miteinander widerstreitende Identität von Adolf Hitler thematisiert sich so als Differenz, die für sich selbst steht.
Bei den Puppen in der Besenkammer ist es ähnlich: hier werden einander widerstreitende Auffassungen in großer Anzahl zu einer apperzeptiven Einheit des Kunsteindrucks aufgefasst. Das bezieht sich auf die einzelnen Puppen und deren Mehrfachauffassungen, wie auch auf das Ensemble der Stofftiere und Puppen, die ebenfalls zu höherstufigen Apperzeptionen werden, welche dann ihrerseits in einer Gesamtapperzeption der inkongruenten Auffassungen münden: das ist eine Form der Kunst.
Sebastian Knöpker