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Perspektivisches Sehen als Phänomenologie

Schlangestehen an der Supermarktkasse: vor mir legt ein verdrossener Endfünfziger Wodkaflasche und Toastbrot aufs Band. Sofort springt meine Phantasie an und kleine Bilderserien steigen in mir auf, wie er seinen Nachmittag verbringen wird. Kurzum: ich skizziere seine Zukunft an, ich sehe ihn perspektivisch.

Man kann also seine Mitmenschen ganz klassisch ansehen, aber auch an ihnen entlangsehen, so ein bisschen in die Zukunft. Der Mann mit dem Wodka entfaltet dann im Phantasiebewusstsein ein Panorama an Varianten, wie er im Laufe des Abends seine Alkoholikerchoreographie abspult.

Natürlich sieht man dabei weniger Phantasiebilder; vielmehr hat man hat es im Gefühl, was geschehen wird. Oder anders ausgedrückt: das Medium der Erscheinung der Phantasie ist eben das Fühlen und nicht so sehr das Sehen.

Das zeigt sich auch beim Bad Dürkheimer Wurstmarkt, wo ganze Familien mit Wursttüten beladen nach Hause gehen. Wenn man sich eine dieser wurstseligen Familien genauer anschaut, bildet sich gleich ein Panorama, auf welche Weisen Mutter, Vater und die beiden Kinder die Wurstspezialitäten zu Hause sichten, begutachten und aufessen werden. Ja, die Kinder sehen schon wie kleine Metzgergesellen aus, der Junge jedenfalls, während das kleine Mädchen die Figur einer Presswurst hat.

Der Schweiß auf der Stirn, wenn die Kinder dann doch zu viel Wurst auf einmal in sich eingeschluckt haben, gibt sich mir als Teil der Perspektive auf sie. Ich sehe sie und in meiner Phantasie bildet sich noch etwas dazu, die Skizze ihrer Zukunft in Sachen Wurstkonsum.

Das muss nicht immer einen elendstouristischen Einschlag haben, sondern kann auch ein freundliches Licht auf die Mitmenschen werfen. Auf dem Bahnhof etwa, wo ein Haufen Leute mit ihren Koffern und Reisezielen steht. Die sanfte Perspektivenbildung, dass all diese Leute ein Ziel haben, noch am Abend ein Hotel beziehen, ein von der Putzfrau vergessenes Schamhaar auf der Klobrille des Bades finden etc. hat etwas Erfreuliches an sich. Die Menschen erscheinen so in einem milden Licht, weil man in ihnen kleine Skizzen sieht und vor allem fühlt. Das perspektivische Entlangsehen hebt dann die eigene Laune wie auch den Wert der Mitmenschen

Sebastian Knöpker