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Phänomenologie als Experiment: die Marmelade

Apperzeption heißt, dass einzelne Elemente zu einer Einheit geformt werden, die mehr als die Summe ihrer Einzelteile ist. Diese Formel ist abstrakt, kann aber auch sinnlich geschmeckt werden.

Man nehme dazu eine Löffelspitze Marmelade aus Bitterorangen (Chivers Olde Marmalade) und schmecke die einzelnen Geschmacksaspekte: das Süße, die Fruchtpalette der Orange, das Saure und das Bittere. Der Geschmack entfaltet sich im Mund und auf der Zunge dabei so, dass alles zusammen genommen einen neuen Gesamtgeschmack ergibt: es schmeckt nach Cola. Dieser Cola-Eindruck verschwindet dann wieder und macht dem Geschmack von Süße und zum Abschluss von starker Bitterkeit Platz.

Phänomenologisch ausgedrückt besitzt die Orangenmarmelade eine diachrone Entfaltung, eine sinnliche Länge des Geschmackseindruckes. Diese Diachronie ist wohlgeordnet: denn zunächst wird in schneller Folge und in geschmacklicher Überlappung das geschmeckt, was später dem Cola-Geschmack als synthetische Einheit zu Grunde liegt. Erst werden also die Elemente der Apperzeption in einer Sequenz je für sich geschmeckt, dann wird aus ihnen im Akt der Apperzeption daraus ein großes Ganzes gemacht, dass sich phänomenal wesentlich von seinen sinnlichen Elementarreizen unterscheidet. Schließlich zerfällt diese synthetische Einheit und im Abgang werden einige der Einzelaromen wieder dominant geschmeckt.

Apperzeption wird so konkret vorgeführt: etwas wird als etwas aufgefasst, was es rein phänomenal her nicht ist, auch nicht sein kann, aber durch die passive Synthesis eben doch wird. Das Schmecken ermöglicht so eine erste Unterscheidung von Wahrnehmung (Perzeption) und Hinzuwahrnehmung (Apperzeption). Der Urteilscharakter von Wahrnehmungsprozessen als schöpferische Phantasieleistung wird durch die bittere Orangenmarmelade deutlich.

Sebastian Knöpker