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Phänomenologie der Lust als Leiden

Man kann mit Lust leiden. Das Lustvolle im Leiden findet sich dann in der außerordentlichen Lebendigkeit, die das Unwohlsein vermittelt. Robert Musil gibt in seiner Novelle Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) einen einfachen Zugang zu dieser besonderen Lust: Ein Jüngling lebt im Internat getrennt von seinen Eltern und wird folgerichtig von Heimweh geplagt. Was dabei fehlt, das Elternhaus, und ein seelischer Schmerz ist, hat allerdings für ihn zugleich den großen Reiz, sich darin besonders intensiv selbst zu fühlen. Dieser Selbstgenuss nutzt also das Leiden, um sich in Szene zu setzen.

Allgemein ausgedrückt gilt: Ein Gefühl zu haben drückt sich vor seinem Lust- oder Unlustcharakter durch das In-Etwas-Involviertsein aus. Ein negatives Gefühl kann es auf dieser Ebene nicht geben, da auch starkes Leiden Präsenz zur Folge hat. Erst die absolute Apathie, das Nichtempfinden also, ist in diesem Sinne negativ, verstanden als Absenz jeglichen Seins im Sinne des Sich-Gegebenseins. Das Gegenteil von Präsenz (Sein) ist Absenz (Nichtsein), aber das Gegenteil von Präsenz ist nicht Leiden. Dies hat die praktische Folge, durchaus guten Grundes in bestimmten Fällen zu leiden, um die Lebendigkeit als Sein darin zu erleben.

Ein Mensch kann von seinem Sich-Befinden her nicht weniger sein, etwa weil im Moment für ihn nichts stattfindet. Es gibt nicht die Möglichkeit eines mentalen Winterschlafes und nicht die Möglichkeit des mentalen Fastens. Ja, es ist unmöglich, im Wachbewusstsein einfach nicht zu denken, nicht zu urteilen und nicht wahrzunehmen.

In Abwesenheit des hedonistisch Guten, undifferenziert als Lust bestimmt, wird dabei auf Formen des Unlust zurückgegriffen. Mithin kann Sein über das hedonistisch Schlechte (Leiden) realisiert werden, wobei dieses Leiden als Sein einen Zweck hat, nämlich den, vor jeder hedonistischen Qualifizierung dieses Seins überhaupt zu sein. Eine solche Qualifizierung als „lustvoll“ ist dem Zwang, überhaupt zu sein, nachrangig.

Dem erfüllten Streben nach Sein ist das Positive bereits das, was es ist (positiv=gegeben), während dem Streben nach Lust nur das Sein als Lust das Positive ist. Negativ gewendet ist das relative Gegenteil der Lust die Unlust, aber das Gegenteil von der Positivität des Seins ist nicht das Leiden, sondern die Absenz, das Fehlen von Präsenz (von Sich-Gegebensein). Die Differenzpaare „Lust – Unlust“ zu „Präsenz – Absenz“ kommen nun in manchen Fällen so zusammen, dass das Vermeiden von Absenz das Realisieren von Unlust in Kauf nimmt; in der Negation des Luststrebens kann sich also die Affirmation des Strebens nach Sein finden. Wird das Dasein notwendig über die Selbstaffektion geleistet, so kann es gefühlsmäßig kein neutrales Leben geben, sind aber positive Gefühle nicht verfügbar, so müssen Formen des Leidens zwecks Seinsversicherung fungieren. Populär ausgedrückt gilt die Formel, lieber qua Leiden zu existieren, als gar nicht zu sein.

Die zweite Implikation der Törleß-Episode besteht in der Erweiterung der Vorstellung vom ontologisch Guten als Krafterfahrung von sich selbst, welche etwas in sich Positives ist, jedoch keine Lust, wie sie sich auf die Differenz „Lust-Unlust“ reduzieren lässt. Die Möglichkeit egoistischen Leidens basiert also nicht auf einem bestimmten Mischverhältnis von Unlust und Lust.

Dieses behauptete Ineinander von Leiden und Krafterfahrung zeigt sich auch in Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion. In ihr findet sich die klassische Schönheit der barocken Musik und die Schönheit des Traurigen, wobei das Traurige der Musik jedoch gerade nicht seine Qualität nimmt. Die Matthäus-Passion ist nicht trotz des Elementes des Traurigen gelungen, sondern eben weil dieses vorhanden ist. Grundmotiv der Matthäus-Passion ist es, den Kreuzweg hin zu Jesus Tod musikalisch wiederzugeben. Aber auch ohne dieses Hintergrundwissen, ohne das Libretto zu verstehen und ohne religiösen Hintergrund allgemein, teilt sich das Traurige dem musikalisch Aufgeschlossenen mit. Das Besondere der Passion besteht darin, ein ungerichtetes Gefühl der Trauer hervorzubringen: die Trauer der Passion ist nicht notwendig die Trauer um Jesus, sondern sie ist einfach Trauer bzw. Traurigkeit als solche; sie hat keinen festgelegten Gegenstand, sie richtet sich nicht notwendig auf Jesus.

Der geneigte Zuhörer findet also ein Leiden ohne Gerichtetheit auf etwas außerhalb seiner selbst, und der Eindruck dieses Hörers ist der eines niederdrückenden wie eines schönen und erhebenden Gefühls. Man spürt sich selbst in der Traurigkeit der Passion ungewöhnlich stark: das Gefühl ist ein so intensives, dass man eine Empfindungstiefe erreicht, die normalerweise unerreichbar ist. Vivaldis Die vier Jahreszeiten dagegen geht in die Richtung, stark zu sein, den Zuhörer mitzureißen, verstanden im wortwörtlichen Sinne des Fortreißens von sich selbst, so dass die Kraft des Eindrucks ein Erlebnis in Distanz zum Erlebenden ist.

Das Besondere an der Matthäuspassion ist die Bereitwilligkeit der Hörenden, an ihr zu leiden und sich an ihr im Sinne der Krafterfahrung zu erheben. Trauer um jemanden ist in vielen Kulturen per Konvention darauf gedrängt, keinerlei positive Elemente zu enthalten. D.h. das gleichzeitige Auftreten von Trauer und Krafterleben ist oftmals unerwünscht, umschrieben im Sinne von pietätlos und geschmacklos. Auf einer Beerdigung zu sagen: „Der Tod meiner Mutter erfüllt mich mit tiefer Trauer, die zugleich eine Lust an meiner Existenz ist.“ würde Bestürzung hervorrufen. Die Matthäuspassion gilt hingegen als Kunst, so dass hier diese Gegenläufigkeit als Ausdruck vertieften Musikverständnisses nobilitiert wird. In diesem Rahmen interessiert an der Passion also nicht die höhere Kunst in ihr, sondern ihre Befreiung von einem Zwang, die Elemente der Selbstmächtigkeit im Leiden zu verdrängen. Insofern ist es nicht ein weit hergeholtes Beispiel, sondern eines, was die Konvention, auf bestimmte Weise negative Gefühle zu empfinden, außer Kraft setzt.

In den beiden Beispielen des Jungen Törless und der Matthäus – Passion zeigt sich also, dass man Lust und Unlust auch von der Seite auffassen kann, Präsenz zu schaffen, zunächst hilfsweise als Lebendigkeit umschrieben, als inneres Echo, Seinssteigerung, innere Krafterfahrung, als Machterleben von sich selbst, Anteilnahme am Sein, Seinserfahrung und als Seinserfüllung. Diese Lebendigkeit hat in Absetzung zum Negativen des Leidens eine Kraft in sich, die unabhängig von den Dimensionen der Lust und des Glücks etwas an sich Positives darstellt.

Sebastian Knöpker