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Phänomenologie des Typus

Es ist unhöflich, geschieht aber ständig: die Kassiererin im Supermarkt wird in der Regel nicht als Individuum, sondern als Stereotypus gesehen. Statt ihrer Einzelexistenz wird vereinfacht von einem Typ ausgegangen, was den Alltag ein wenig leichter macht. Eine praktische Phänomenologie kann nun zeigen, wann Typisierung der Wahrnehmung Vorteile bietet und wann die Individualisierung sinnvoll ist.

In den USA ist der soziale Alltag dadurch bestimmt, Greg, Bill, Dick und Hank nicht als Individuen zu sehen, sondern als Grundtypus. Dadurch geht alles leicht von der Hand, aber zugleich ist eben Greg wie Dick wie Willy, weil in jedem Individuum nur noch der Typus gesetzt ist. Die amerikanische Oberflächlichkeit besteht darin, nicht den Menschen zu sehen, sondern dessen Stereotyp.

Die Typusbildung fängt in der frühen Kindheit an, wo ein Gegenstand wie z.B. ein Handschuh vom Kind das erste Mal erlebt wird und bei späteren Begegnungen mit ähnlichen Gegenständen wiedererkannt wird. Die Vorvertrautheit sorgt dafür, dass das Kind sich nicht mehr wie beim ersten Mal intensiv mit dem Handschuh auseinandersetzen muss, sondern davon ausgehen kann, die Grundstruktur des Handschuhs schon zu kennen, bevor dieser spezifische Handschuh eingehend betrachtet wird.

Die Urstiftung des Handschuhs bildet also ein Sediment, einen bleibenden Erwerb der Form des Handschuhs, das bei späteren Handschuhbegegnungen sofort aktiviert wird. Der Vorteil besteht in einer raschen Wirklichkeitsbewältigung, der Nachteil darin, dass nicht mehr der Einzelgegenstand interessiert, sondern dessen Subsummierung unter einen Typus.

Was man dabei verliert, zeigt gut der verliebte Mensch. Denn er gewinnt den Zugang zur Einzelexistenz wieder, weil er zusammen mit seinem Partner Dinge wiederentdecken kann, die er eigentlich gut kennt, aber durch die Typuswahrnehmung schon lange nicht mehr individuell wahrgenommen hat. Verliebte verreisen gerne und entdecken so die Welt neu, z.B. eine kleine Dorfkirche, die dank der Liebe als Individualexistenz wahrgenommen wird, was zu einer glückseligen Begegnung wird.

Das Wechselspiel von Typ zu Individuum lässt sich auch beim Essen erleben. Eine Brotsuppe, die den Brotgeschmack sehr gut herausbringt, kann das Brot als Gegenstand von seiner Typuswahrnehmung her erlösen und so zu einem außergewöhnlichen Erlebnis werden. Für den Gourmand, der Brot sonst nur als Typus isst und schmeckt, wird so so etwas Einfaches wie das Brot zu einem herausragenden Erlebnis.

Insgesamt gilt: die Neigung des Wahrnehmungsalltags, die Einzelexistenz einem Typus zu opfern, um sie so tutto subito erkennen zu können, führt zu einer Effizienzsteigerung, zugleich aber auch zu einer sinnlichen Verarmung. Weil man im Alltag keinerlei Idee davon hat, ob man die Einzelexistenz oder nur ihren Typus wahrnimmt, leistet die Phänomenologie hier nicht erste Hilfe, sondern erste Orientierung.

Sebastian Knöpker