Die Vorsilbe „Ur“ ist schwer beliebt. Das Ursprüngliche gilt immer als gut und unhinterfragbar authentisch. Die Phänomenologie hat es auch sehr mit dem Ursprung, nur nennt sie ihn etwas eleganter Originarität. Ihren Ursprung hat sie jedoch nicht so sehr in der zeitlichen Urstiftung, sondern in der Setzung der logischen Modalität.
Platons Ideenlehre ist zugleich gelebter Alltag, denn beim Essen und Trinken besitzt jeder Mensch Urbilder des Geschmacks. Der Kartoffelsalat wird so oft mit einer Archetypik ausgestattet und entspricht er nicht dem Urgeschmack, so wird die Abweichung kritisch vermerkt: zu wenig Mayonnaise, zu wenig Gurkenscheiben, zu viele Zwiebeln!
Das Schmecken ist von solchen Urtypen wesentlich bestimmt. Sie haben jeweils eine Vorgeschichte mit einer Reihe von Urstiftungen, die dafür sorgt, dass eine gewisse Orthodoxie ins Essen einzieht.
Aufgeschlossene Feinschmecker rühmen sich daher oft der Fähigkeit, nicht mit Urmüttern zu arbeiten. Tatsächlich schaffen sie es jedoch nur, die obersten Schichten der Orthodoxie einzureißen. In die tieferen Sedimente der Urstiftungen reichen auch sie nicht herein.
In der eidetischen Phänomenologie geht es natürlich nicht um kulinarische Vorlieben, die aus der eigenen Biographie heraus gebildet werden. Es geht um Originarität, die nach Husserl in der reinen Selbstgegebenheit der Weise der Erscheinung (Phänomenalität) des Erscheinenden begründet ist. Die Zeitlichkeit ist hier gerade ausgeschaltet und besitzt in der eidetischen Variation als Vorgang des Durchlaufens von Varianten lediglich eine instrumentelle Bedeutung.
Die eidetische Phänomenologie Husserls ist an diesem Erfüllungsverhältnis von Noema und Noesis gescheitert, doch hat sie eine existenzielle Bedeutung. Denn in der Selbstgegebenheit findet sich eine modale Setzung der intentionalen Gegenstände, die nicht nur möglich und wirklich, sondern auch notwendig sind.
Präsenz hat mit anderen Worten modale Qualitäten, was sich am Beispiel des anonymen Hotelzimmers zeigt. Das Zimmer ist für mich durchaus wirklich – es ist zweifellos vorhanden und nicht nur ein Produkt der Phantasie – doch ist es gerade darin für mich kontingent, d.h. nur wirklich ohne notwendig zu sein. Ich empfinde es als beliebig und es könnte auch ganz anders sein. Die Modalisierung des Gegenstandsbewusstseins bringt also eine Entfremdung mit sich. Der Ort, an dem man sich zweifellos befindet, ist in seiner modalen Qualität prekär.
Hersteller von Luxusuhren machen sich das zu Nutze, indem sie Uhren verkaufen, die von ihren Besitzern so modalisiert werden, mehr als bloß wirklich zu sein. Eine solche Uhr ist darin besonders, dass sie im Wahrnehmungsurteil nicht bloß eine, sondern die Uhr ist. Die Uhr besitzt mit anderen Worten Originarität, die mit Husserls Selbstgegebenheit nichts zu tun hat, dafür aber seiner Lehre von der Modalisierung entspricht.
Obwohl nur ein vorprädikativer Aspekt der eidetischen Phänomenologie, erhält hier die modale Setzung eine große Bedeutung. Sie gilt nicht nur für Luxusuhren, sondern auch für soziale Beziehungen, für das Zuhause und natürlich für das Selbstgefühl. Wer möchte schon eine Modalisierung nach Art des anonymen Hotelzimmers in seinem Selbstgefühl in sich tragen? Wohl niemand, aber tatsächlich machen es die meisten ab einem bestimmten Alter.
Sebastian Knöpker