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Umfingieren

Um sich über einen Skandal aufzuregen, muss man einen Teil von sich so empfinden, dass man sich selbst nicht ertragen kann. Der Skandal als das Fremde braucht das Eigene, um überhaupt gespürt werden zu können. Die Urheberschaft muss also umfingiert werden.

Manchmal muss also der Urheber gefälscht werden, damit das Fremde zum Eigenen werden kann. Fälscht man nicht, so gäbe es keine Moral. Es wäre sogar unmöglich, sich über den eigenen Nachteil aufzuregen, kommt es von Außen.

Die Frage der Schuld wird damit eindeutig und erinnert an den uralten Trick der katholischen Kirche. Sie macht dem Menschen Vorwürfe, der ihr Vorwürfe macht, weil es keine Vorwürfe gäbe, würde dieser Mensch in sich kein moralisches Empfinden tragen, das nun aber notwendig selbstverschuldet ist.

Das ist sauber argumentiert und nicht bloße Unverschämtheit. Denn weil die Sache selbst nicht redet, muss sie zum Sprechen und zur Manifestation gebracht werden. Und das funktioniert nur über die kleine Schummelei, die eigene Autorenschaft als das Werk der Welt selbst umzufingieren.

Ich bin es, der ein Gefühl hervorbringt, sich zu erleiden. Ich erleide mich in dem Gedanken an den Skandal: Es handelt sich um ein Gefühl, das sich selbst nicht erträgt. Derjenige, der es hat, erträgt sich selbst nicht und er ist es, der es nicht nur empfindet, sondern auch aus sich heraus manifestiert. Das Sich-Erleiden wird aber kontrafaktisch als fremdverschuldet aufgefasst.

Diese Praxis der falschen Zuschreibung ist notwendig, damit das Fremde durch das Eigene konstituiert werden kann, überhaupt da ist. Wenn ich darauf warte, dass sich das Fremde von selbst meldet, wird dies nie geschehen. So braucht man den zerebralen Unfall, das Eigene als das Fremde auszugeben.

In der Psychopathologie gibt es Fälle, wo ein Mensch diesen Unfall nicht mehr vollziehen kann und ihm alles als das Eigene vorkommt. Er schafft es nicht mehr, die Urheberschaft zu fälschen und ist so ein Fall für die Pathologie. Dort wird ihm meist nicht geholfen. Aber wird zur Fallvignette gemacht, als Material aufgefasst, das dann für Vorträge und Fachartikel verwurstet wird. So in etwa wie hier auch.

Das Eigene kann pathologisch als das Fremde attribuiert werden oder umgekehrt das Fremde als das Eigene. Es gibt auch die Möglichkeit einer dritten Macht, die über Ich und Mich hinaus ihre eigenen, als fremd erlebten Gedanken und Gefühle in das Subjekt einbringt. Das Fremde wiederum kann als „Er“, „Es“, „Du“, „Wir“ etc. erlebt werden. Hier gibt es analog zur Grammatik verschiedene personale Perspektiven und Urheber.

Erfreulich ist das Umfingieren in der Liebe, in der man das Leben selbst als Gabe des Anderen empfindet. Die Urheberschaft der Tatsache, zu leben, und sich daran zu freuen, wird hier auf die geliebte Seele zurückgeführt, sodass eine angenehme Abhängigkeit zustande kommt.

Diese Abhängigkeit lässt sich auch in Bezug auf das Leben empfinden. Demnach ist alles Denken, Empfinden, Wollen, Vorstellen etc. das Werk des Lebens selbst, was je nach Schicksalsempfinden als angenehm oder unangenehm erfahren wird. Das Schicksal wäre dabei eine personifizierte Auffassung des Lebens, also etwas weniger Diffuses.

Sebastian Knöpker