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10 Thesen zu einer Lebensphänomenologie der Zukunft

I. Notwendigkeit einer transzendentalen Wende

Alles konkrete Leben verschwindet in der Lebensphänomenologie im Transzendentalen, ohne dass diese Reduktion umkehrbar wäre. Was vom erotischen Erleben, von der Kunsterfahrung, vom Empfinden, Denken, Handeln und Wollen bei Henry bleibt, ist nur dessen Weise der Erscheinung. Dieses Wie der Erscheinung als das reine Leben ist jedoch bemerkenswert abstrakt und unfassbarer Natur. Notwendig wäre es, von der Weise der Erscheinung als dem reinen Leben zu einem je konkreten Lebensvollzug zu gelangen, damit gezeigt wird, welche praktische Bedeutung die transzendentale Affektivität haben kann. Gefordert ist also eine Erweiterung des Denkweges der Lebensphänomenologie vom Konkreten zu dessen transzendentalen Grund und von dort aus wiederum zu neuen Formen (gelingenden) Lebens.

II. Erste oder narrative Philosophie?

Der Anspruch der Lebensphänomenologie, prima philosophia zu sein, wird nicht erfüllt. Stattdessen liegt in der Denkfigur der transzendentalen Affektivität eine Ontologie mit narrativen Zügen vor, die sich als Fundamentalontologie ausgibt. Dass nämlich die transzendentale Affektivität als effektiver Grund allen Sich-Erscheinens in der Selbstumschlingung eines Sich-Erleidens und eines Sich-Erfreuens gegeben ist, ist eine Intuition, der, so inspirierend sie auch ist, von Henry zur Absicherung noch ein absolutes Begriffs- und Anschauungsvakuum mitgegeben wird, welches jede Form der Kritik verhindern soll. Aufgabe einer zukünftigen Phänomenologie des Lebens muss es daher sein, zum einen mehr als eine Ontologie mit narrativem Einschlag bieten zu können und zum anderen die Berechtigung der Lebensphänomenologie unabhängig von jeder Letztfundierung als Lebensparadigma zu leisten.

III. Die Lebensphänomenologie als Paradigma

Unabhängig vom wissenschaftlichen Status der Lebensphänomenologie lässt sich auf Basis von ihr ein Lebensparadigma formulieren, welches keinerlei Letztfundierung braucht, sondern sich im Lebensvollzug als gangbar erweist oder nicht. Die Lebensphänomenologie lässt sich diesbezüglich auf folgende Formel bringen: Das Leben als Wirklichkeit muss nicht an einem Sein teilhaben, welches unabhängig von ihm als Subjektivem objektiv existiert, um wirklich zu sein. Das Leben muss nicht von einem äußeren Sein in seiner Realität autorisiert werden, indem es an diesem verbrieften Sein teilnimmt. Es ist vollgültig wirklich als Selbstaffektion, also als ein Bezug auf sich selbst, der dadurch real gegeben ist, dass er durch eine transzendentale Affektivität geleistet wird. Was aber bedeutet dies für den konkreten Lebensvollzug? Diese Leerstelle ist von einer Lebensphänomenologie der Zukunft noch auszufüllen.

IV. Notwendigkeit einer Kritik der theologischen Wende

Die phänomenologische Ontologie erfährt im Spätwerk Henrys eine Doppelung: aus der Ipseität wird die Ur-Ipseität, aus dem Pathos das Ur-Pathos, aus dem Leib der Ur-Leib. Ziel dieser Doppelung ist eine Letztfundierung des Lebens in einer gleichursprünglichen Identität von Christus und Gott, die selbst nicht wieder fundiert ist. Dabei wird nicht erläutert, warum die Selbstumschlingung Gott/Christus ihrerseits unbedingt ist, wie eine Selbstaffektion in der Selbstaffektion auch nur denkbar ist und wie es eine Übertragung des göttlichen Lebens auf das jeweilige Individuum geben kann. Stattdessen nimmt Henry es in Anspruch, dass das Christentum die Phänomenologie erweitern könnte ohne sich selbst begründen zu müssen. Dagegen sei gesetzt: die lebensphänomenologische Christologie ist freie Interpretation und bedarf einer Fundierung, die über eine schöpferische Bibellektüre hinaus geht.

V. Enttheologisierung des „Wir“

Eng mit der theologischen Wende der Lebensphänomenologie hängt Henrys Intersubjektivitätstheorie zusammen: Weil alle Lebendigen aus derselbe Quelle, dem Ur-Pathos als der Selbstumschlingung von Gott und Christus, stammen, gibt es auch eine Ur-Gemeinschaftlichkeit, nach welcher jeder Lebendiger sich immer schon in einem „Wir“ wiederfindet. Abgesehen von der bereits genannten dogmatischen Bestimmung des Intersubjektiven folgt aus dieser Setzung nichts für das Zusammenleben der lebendigen Individuen: es gibt keinerlei Übergang vom Transzendentalen in das konkrete Leben.

VI. Erfüllung des Anspruches, Phänomenologie zu sein

Im Zentrum der Lebensphänomenologie Henrys steht nicht die Arbeit an und mit den Phänomenen, sondern mit kanonisierten Texten der Philosophiegeschichte. Dieses Vorgehen ist weder phänomenologisch, noch aus dem Leben geschöpft, wie man es erwarten könnte, sondern reine Textarbeit. So haben alle zentralen Begriffe der Lebensphänomenologie, die Ipseität, der Leib, die transzendentale Affektivität, das Historiale etc. einen hermeneutischen Ursprung, der darin besteht, Texte der Philosophiegeschichte so zu lesen, dass deren Unzulänglichkeiten und inneren Widersprüche zusammen genommen einen verborgenen Urtext zu Tage fördern, der nie geschrieben und intendiert wurde, doch implizit in der Textzusammenstellung Henrys gegeben ist. Methodisch ist das problematisch, weil sich die Lebensphänomenologie genuin als Phänomenologie begreift. Genealogisch betrachtet, beginnt Henry nicht mit phänomenologischen Analysen, also mit dem Vollzug der Epoché anhand von konkreten Phänomenen und mit dem apperzeptiven Abbau der passiven Synthesen, sondern mit einer kritischen Textexegese kanonisierter Philosophen. In Anbetracht dieser Problematik bedarf es einer phänomenologischen Grundlegung der Lebensphänomenologie.

VII. Aufbruch aus dem lebensphänomenologischen Konservativismus

Die orthodoxe Lebensphänomenologie stellt einen radikalen Konservativismus dar, der auf keine bestimmten Inhalte Wert legt, sondern auf die Fortführung des Lebens selbst. Da das Leben sich in allen seinen Manifestationen selbst rechtfertigt, kann es wohl kritisiert werden, besitzt jedoch immer schon seinen Sinn vor jeder konkreten Bestimmung, der jede Kritik relativiert. Der Konservativismus Henrys basiert demnach nicht auf bestimmten Inhalten, sondern auf dem, was den jeweiligen Inhalten als der Weise ihrer Manifestation zu Grunde liegt. Auch und gerade das Leiden ist demnach gerechtfertigt, insofern transzendental jedem Leiden auch ein Sich-Erfreuen zu Grunde liegt, so dass jedes Leiden sich in gewisser Hinsicht an sich selbst erfreut. Statt eines solchen richtungslosen Opportunismus bedarf es einer existenziellen Orientierung der Lebensphänomenologie. Es gilt: nur weil man lebt, ist noch längst nicht jeder Lebensvollzug gerechtfertigt, weil er sich im Leben vollzieht.

VIII. Missverständnis „Leib“

Die besondere Betonung der Leiblichkeit ist ein hervorstechendes Charakteristikum der Lebensphänomenologie. „Alles Leben ist Leib“ gilt demnach, wobei allerdings der lebensphänomenologische Leib weder mit dem Körper als Ding unter Dingen, noch mit dem reinen Leibempfinden identisch ist. Leib heißt bei Henry gerade soviel, dass die transzendentale Affektivität sich in ihrer Selbstumschlingung ein absoluter Ort und eine widerständige Ausdehnung ist. Demnach ist das konkrete Leibspüren nur ein Sonderfall der transzendentalen Affektivität, jedoch keineswegs der Ursprung allen Sich-Empfindens. In der Henry-Rezeption findet sich jedoch eine Verwendung des Leibbegriffes, welche leer und ohne Konturen bleibt. Diese suggeriert, dass alles Leben leiblich sei, aber was das Leibliche ausmacht, bleibt ungeklärt. Es ist daher notwendig, Henrys Leibbegriff genau zu bestimmen und dabei nicht zu vergessen, dass es sich hierbei um eine abstrakte Bestimmung der Affektivität handelt, welche keinen direkten Bezugspunkt zur Leibpraxis aufweist.

IX. Missverständnis Intentionalitätskritik

Intentionalität wird lebensphänomenologisch in der Regel als eine Abirrung vom Leben aufgefasst. Sie ist jedoch kein Schreckgespenst, sondern ein Modus des Lebens, nicht nur ein faktischer und notwendiger, sondern auch einer, welcher das Leben lebenswert macht. Gleiches gilt für die vorintentionalen Leistungen (passiven Produktionen), die keineswegs notwendig eine Entfremdung vom originären Leben darstellen. Im Intentionalen wie im Vorintentionalen kann es zu Entfremdungen kommen, zu einem Vergessen des Lebens, wie Henry sagt, aber es bleibt ungeklärt, unter welchen Bedingungen dieses geschieht. Einer Lebensphänomenologie der Zukunft ist es vorbehalten, die Verhältnisse zwischen Intentionalität, Vorintentionalität und Nichtintentionalität genauer zu bestimmen, als dass dies bislang der Fall ist. Insbesondere ist dabei die Vorintentionalität nicht als ein Durchgangsstadium zum „reinen Leben“ des Nichtintentionalen aufzufassen, sondern als genuiner Ort des Lebens.

X. Was ist das Leben an sich

In der Lebensphänomenologie wird suggeriert, es gäbe ein reines Leben, welches als die Weise der Erscheinung ohne jeden Erscheinungsgehalt zu verstehen ist. Tatsächlich jedoch kann es kein solch „reines Wie“ geben, insofern auch im Nichtintentionalen eine Selbstumschlingung von Sich-Erfreuen und Sich-Erleiden gegeben ist, die sich auf diese Weise ein spezifischer Gehalt gibt, indem sie einen inneraffektiven Widerstand bildet. Dieser Widerstand ist immer eine inneraffektive „Figur“ und keineswegs ein Sich-Erscheinen im Sinne reiner Transparenz. Das zu verstehen ist wichtig, insofern das „Leben als solches“ bei Henry eine existenzielle Aufwertung erfährt, wonach das Hinter-sich-Lassen des Intentionalen eine Welt ohne jeden Horizont der Zeit, des Raumes und der Kausalität manifestiert, in dem sich das Leben an sich erfreut. Dieses „Fest des Lebens“ ist jedoch nicht einfach dadurch realisierbar, dass man die „geistige Armut“ Meister Eckharts aufsucht, also das Leben in seiner Ankünftigkeit vor jeder intentionalen Gebung erlebt. Eben dies ist unmöglich, da auch das vorgeblich reine Leben je in inneraffektiven Widerständen bestimmt ist. Es bleibt der Lebensphänomenologie der Zukunft zu klären, welche intensiven Widerstände ein „Fest des Lebens“ ergeben können.

Sebastian Knöpker