Traubensaft schmeckt angenehm harmonisch, dafür aber auch harmlos. Dissonanzen in der Harmonie sind also gefragt, wie sie kräftige Rotweine haben. Was als Misston eigentlich stören müsste, sorgt dann für gesteigerte Farbigkeit, für Interesse und Charakter.
Ein Winzer betreibt angewandte Phänomenologie, wenn er seinen Rotwein mit Gerbsäuren angenehm-unangenehm kratzig macht und bittere Untertöne einbringt. Er ähnelt dem Komponisten, der in seine Musik kleine Mengen unharmonischer Töne einbringt. Vivaldi hat oft darauf verzichtet, weshalb seine Musik auch zu glatt klingt. Johann Sebastian Bach hingegen machte von den Dissonanzen guten Gebrauch, wie z.B. Die Kunst der Fuge zeigt.
Zur Theorie kondensiert wurde die Dissonanz von Johann Georg Sulzer (1720-1779), der lange vor der Phänomenologie in seinen Artikeln „Dissonanz“ und „Vorhalt“ die musikalische Meinungsverschiedenheit als Zutat phänomenologisch aufbereitete. In seinem Wörterbuch Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771/1774, 4 Bände) betreibt er ein phänomenologisches Denken, das dem Leser den Vorgang seiner Reflexion als Gang des Denkens plastisch nahe bringt.