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Horizont in der Phänomenologie

Horizont bezeichnet in der Phänomenologie ein Superplus an Präsenz. Dieser Überschuss zeigt sich z.B. im Anblick des eigenen Briefkastens, der mehr als ein Gegenstand ist, weil er einen Horizont an möglichen Rechnungen und Mahnungen besitzt. Das Innenleben des Briefkastens bildet also einen Superplus an Briefen: in der Wahrnehmung sind lauter mögliche Gegenstände im Gegenstand Briefkasten mit anwesend.

Das Medium der Erscheinung der Gegenstände im Innenhorizont des Briefkastens ist die Affektivität. Der Horizont und seine Inhalte werden also gefühlt, was bei Husserl „affektives Relief“ genannt wird. Anders ausgedrückt wird das Innenleben des Kastens nicht gesehen, gehört oder gerochen, weil statt einer greifbaren Sinnlichkeit das Gefühl die Anwesenheit des Horizontes leistet.

Ein hedonistischer Horizont bildet sich beim Essen eines Leberknödels. Er weckt beim Knödelfan ein Horizont mitvermeinter Knödelvarianten, also Mohnknödel, Pflaumenmusknödel, Speckknödel etc.. Der gerade auf der Zunge geschmeckte Knödel besitzt dann sein Superplus in der impliziten Präsenz der vielen wohlschmeckenden Knödel, die im Moment nicht genossen werden. Das sinnlich Gegebene besitzt somit einen Überschuss an nur affektiv mitpräsenten Knödel-Möglichkeiten.

Bei einem Kind kann sich ein im Kern leerer Horizont bilden, demnach alles möglich ist. Die Welt wird dann so empfunden, offen zu stehen, ohne konkrete Wege und Chancen zu enthalten. Der Horizont thematisiert sich in dem Falle selbst und besteht aus unbestimmten Optionen. Sie sind in dem Empfinden des Kindes aber eben nicht möglich, sondern ganz sicher ein angenehmes Gefühl. Der Horizont kann also in seiner Bedeutung die unmittelbar anschauliche Sinnlichkeit übersteigen. Entscheidend ist in diesem Fall nicht, was gerade unmittelbar gesehen, gedacht oder vorgestelllt wird, sondern der Hof, der Horizont und das Feld dieser sinnlich greifbaren Phänomene.

Sebastian Knöpker

Edmund Husserls Definition des Begriffes „Horizont“

aus: Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Eine Einleitung in die Phänomenologie, 1929

§ 19. Aktualität und Potentialität des intentionalen Lebens

Die Vielfältigkeit der Intentionalität, die zu jedem cogito gehört, zu jedem weltlich bezogenen cogito schon dadurch, daß es nicht nur Weltliches bewußt hat, sondern selbst, als cogito, im inneren Zeitbewußtsein bewußt ist, ist nicht thematisch erschöpft in der bloßen Betrachtung der cogitata als aktueller Erlebnisse. Vielmehr impliziert jede Aktualität ihre Potentialitäten, die keine leeren Möglichkeiten sind, sondern inhaltlich, und zwar im jeweiligen aktuellen Erlebnis selbst, intentional vorgezeichnete Möglichkeiten, und zudem ausgestattet mit dem Charakter vom Ich zu verwirklichender.

Damit ist ein weiterer Grundzug der Intentionalität angezeigt. Jedes Erlebnis hat einen im Wandel seines Bewußtseinszusammenhanges und im Wandel seiner eigenen Stromphasen wechselnden „Horizont“ — einen intentionalen Horizont der Verweisung auf ihm selbst zugehörige Potentialitäten des Bewußtseins. Z. B. zu jeder äußeren Wahrnehmung gehört die Verweisung von den eigentlich wahrgenommenen Seiten des Wahrnehmungsgegenstandes auf die mitgemeinten, noch nicht wahrgenommenen, sondern nur erwartungsmäßig und zunächst in unanschaulicher Leere antizipierten Seiten — als die nunmehr wahrnehmungsmäßig kommenden, eine stetige Protention, die mit jeder Wahrnehmungsphase neuen Sinn hat.

Zudem hat die Wahrnehmung Horizonte von anderen Möglichkeiten der Wahrnehmung als solchen, die wir haben könnten, wenn wir tätig den Zug der Wahrnehmung anders dirigierten, die Augen etwa statt so, vielmehr anders bewegen, oder wenn wir vorwärts oder zur Seite treten würden usw. In der entsprechenden Erinnerung kehrt das modifiziert wieder, etwa im Bewußtsein, ich hätte damals statt der faktisch sichtlich gewesenen auch andere Seiten wahrnehmen können, natürlich, wenn ich entsprechend meine Wahrnehmungstätigkeit anders dirigiert hätte. Zudem gehört, um das nachzuholen, zu jeder Wahrnehmung stets ein Vergangenheitshorizont als Potentialität zu erweckender Wiedererinnerungen und zu jeder Wiedererinnerung selbst als Horizont die kontinuierliche mittelbare Intentionalität möglicher (von mir aus tätig zu verwirklichender) Wiedererinnerungen bis zum jeweils aktuellen Wahrnehmungsjetzt hin. Hier überall spielt in diese Möglichkeiten hinein ein Ich kann und Ich tue bzw. Ich kann anders als ich tue — im übrigen unbeschadet der stets offen möglichen Hemmungen dieser wie jeder Freiheit.

Die Horizonte sind vorgezeichnete Potentialitäten. Wir sagen auch, man kann jeden Horizont nach dem, was in ihm liegt, befragen, ihn auslegen, die jeweiligen Potentialitäten des Bewußtseinslebens enthüllen. Eben damit enthüllen wir aber den im aktuellen cogito stets nur in einem Grade der Andeutung implicite gemeinten gegenständlichen Sinn. Dieser, das cogitatum qua cogitatum, ist nie als ein fertig Gegebenes vorstellig; er klärt sich erst durch diese Auslegung des Horizontes und der stetig neu geweckten Horizonte. Die Vorzeichnung selbst ist zwar allzeit unvollkommen, aber in ihrer Unbestimmtheit doch von einer Struktur der Bestimmtheit. Z. B. der Würfel läßt nach den unsichtigen Seiten noch vielerlei offen, und doch ist er schon als Würfel, und dann in Sonderheit als farbig, rauh und dgl., im voraus aufgefaßt, wobei aber jede dieser Bestimmungen stets noch Besonderheiten offen läßt. Dieses Offenlassen ist vor den wirklichen Näherbestimmungen, die vielleicht nie erfolgen, ein im jeweiligen Bewußtsein selbst beschlossenes Moment, eben das, was den Horizont ausmacht. Durch wirklich fortgehende Wahrnehmung — gegenüber der bloßen Klärung durch antizipierende Vorstellungen — erfolgt erfüllende Näherbestimmung und evt. Andersbestimmung, aber mit neuen Horizonten der Offenheit.

So gehört zu jedem Bewußtsein als Bewußtsein von etwas die Wesenseigenheit, nicht nur überhaupt in immer neue Bewußtseinsweisen übergehen zu können als Bewußtsein von demselben Gegenstand, der in der Einheit der Synthesis ihnen intentional einwohnt als identischer gegenständlicher Sinn; sondern es zu können, ja es nur zu können in der Weise jener Horizontintentionalitäten. Der Gegenstand ist sozusagen ein Identitätspol, stets mit einem vorgemeinten und zu verwirklichenden Sinn bewußt, in jedem Bewußtseinsmoment Index einer ihm sinngemäß zugehörigen noetischen Intentionalität, nach der gefragt, die expliziert werden kann. Das alles ist der Forschung konkret zugänglich.