Die Trauer um einen gestorbenen Menschen zeigt sich manchmal in stillen Teilhabern und Platzhaltergefühlen. Man kann dann weder trauern noch ganz normal weiter leben, weil ein Gefühl der Taubheit als Grauleben im Empfinden Platz nimmt.
Wo eigentlich Traurigkeit sein sollte, ist dann eine Leere, die als Platzhalter dient. Stille Teilhaber sind im Alltag gar nicht selten. Wer als Sitzsack sein Leben auf unbequemen Stühlen verbringt, der wird im unteren Rücken viele kleine Inseln der verblichenen Lebendigkeit bilden. Diese Inseln des Graulebens ersetzen das ursprüngliche Körpergefühl durch ein Vakuum. Erst wenn man einmal aus vollem Herzen lacht oder weint, merkt man, wie da etwas nicht mitlacht, nicht mitgeht und ein Fremdkörper bleibt.
■ Die Trauer als Grenzwüste
Das ungelebte Leben verschwindet also nicht einfach, sondern plagt und quält sich, weil es doch noch gelebt werden möchte. Wer seinen Rücken vernachlässigt und sich zu wenig bewegt, kann seine Teilhaberschaft dabei auf einfache Weise wieder ins Leben zurückholen. Eine Massage hat so das Talent, das vergessene und vernachlässigte Leben aufzuspüren und als Leichtigkeit, Weite und Lebendigkeit zu überführen. Die Altlasten des verzettelten Lebens werden so auf geschickte Weise in eine Serie kleiner Lüste und Genüsse überführt.
Bei der Massage kann man seine stillen Teilhaber handfest ergreifen, doch bei der Trauer ist es schon schwieriger, eine gute Ansprache zu finden. Die verhinderte Trauer hat keinen Henkel, an dem man sie manifest machen kann. Sie bietet keinen Angriffspunkt und lässt sich nicht direkt erfassen.
Könnte man den verstorbenen Menschen betrauern, würde die Trauer nach und nach schwinden und schließlich in ein gelegentliches Andenken übergehen. Kann man es nicht, so hält sich der Platzhalter stabil und droht zur chronischen Belastung zu werden. Darin destabilisiert er den ganzen Menschen, weil die neutrale Zone des Nichttrauerns ein Stachel im Gemüt ist. Er erinnert daran, dass etwas noch nicht zu Ende gedacht und gefühlt ist. Einerseits ist man mobilisiert, andererseits weiß man nicht, wie man diese Spannung umsetzen kann. Ein allgemeiner Unfrieden ist dann der Ausdruck dieses nagenden Mangels, der den Menschen umklammert und nicht so leicht wieder frei gibt.
Gesucht ist eine Ansprache und Aussprache, in der der Verstorbene und seine Welt zum Ausdruck kommen. In dieser Trauerarbeit lassen sich auf diese Weise die stillen Teilhaber nach und nach reaktivieren. Es geht also um ein geräumiges Selbstgespräch wie um ein Sprechen mit den Verwandten und Freunden des Gestorbenen. Dabei ist ein gutes Geschick für den Umweg gefragt, da das Thema nicht direkt angesprochen werden möchte. Denn im Gespräch miteinander zeigt sich oft eine Grenzwüste, eine weitere Spielart des stillen Teilhabers. So eine Wüste besteht darin, ein Thema in weitem Bogen zu meiden und zu umfahren. Damit geht man ganz sicher, keine düsteren Gefühle zu wecken, bewegt sich aber auch in der Sprachlosigkeit, die ja überwunden werden soll.
■ Arbeit an der Biographie als Trauerbewältigung
Ob Selbstgespräch, Sprechen mit einem Therapeuten oder mit Leidensgenossen, geht es immer darum, die Lebenswelt des Verstorbenen zur Sprache zu bringen. Denn so wie Geschichten über Sherlock Holmes nicht mit dem eigentlichen Kriminalfall beginnen, sondern mit einer häuslichen Szene, in der die gelebte Welt von Watson und Holmes zum Ausdruck kommt, so geht es auch bei der Erinnerung um die Welterzählung. Nicht in den Fakten und Daten steckt die Trauerarbeit, sondern in der Welt, die der Verstorbene war und in der weitreichenden Erzählung immer noch ist. Durch das geduldige Kreuzen und Streifen in seinem Leben, in der man selbst eben auch verschiedene Rollen gespielt hat, steckt die Befreiung zur Trauer.
Die stiller Teilhaber, Grenzwüsten und Platzhalter können nur so aufgelöst werden, in die Erzählung eingebracht zu werden und dort zur Sprache zu kommen. Was einmal war, das hat im Erzählen eine Gegenwart und in der Lösung der Teilhaber eine Zukunft. Bei der Massage sind es fleißige Hände, die Druck und Stoß ausüben, um so die Platzhalter wieder ins Leben zu bringen. Bei der Trauerarbeit ist es die breit angelangte Erzählung als das Mittel der Wahl, um die Trauer hervorzulocken. Sie möchte erst noch Leiden werden und braucht einen geduldigen Geburtshelfer. Massage wie Erzählung schlagen jeweils einen Umweg ein, um das zu ergreifen, was direkt nicht greifbar ist. Das eigentliche Ziel bei der Trauerarbeit ist es, sich in die Trauer zu versetzen. Man möchte leiden, um die Fremdkörper der verhinderten Trauer in sich aufzulösen. Wenn das gelingt, lebt man mit der Summe seines Schmerzes und löst so seine stillen Teilhaber auf.
Sebastian Knöpker