Beim Bahnfahren lassen sich oft Leute beobachten, die sich mehrmals umsetzen, um den für sie dann wieder nicht richtigen Sitz zu finden. Offenkundig findet sich hier ein Bedarf nach Alphabetisierung: wie verhalte ich mich in der Bahn?
Gegeben sie ein ebener, freier Raum. Gehen innerhalb seiner Grenzen einige Menschen hin und her, und jeder tut dabei jeweils so, als ob nur er den Raum durchquert und sonst niemand da sei, bildet sich eine verquere Atmosphäre. Jeder ignoriert jeden und dadurch bildet sich im Raum ein zusätzliches atmosphärisches Möbel als abgeknickter Misston.
Ähnlich ist es beim Bahnfahren im Nahverkehr, wo Leute im Falle unvermeidlichen Kontakts einander wie Schiffe auf hoher See begegnen und anonym ausweichen. Selbst das Sitzen im gemeinsamen Raum als Großraumabteil übernimmt dabei diese Aura des seelenlosen Nebeneinanders.
Das unterschreitet noch die atmosphärische Raumbildung im Bordell, wo die Freier die einzelnen Etagen ablaufen und einander doch immerhin höflich ausweichen. Die anderen Männer werden zwar nicht gemocht, aber durchaus akzeptiert.
Selbst bei einer Hundertschaft Polizisten, die zum Einsatzort rennen und auf dem Weg dorthin alles aus dem Weg boxen und niedertreten, ist der Begegnungscharakter ausgeprägter. Die Brutalität dieses Vorgehens ist zwar äußerst unfreundlich, doch gibt es hier überhaupt noch einen Kontakt.
Beim Bahnfahren ist es dagegen oft ein Kontakt, der nicht mehr stattfindet und so einen sehr realen Nichtkontakt hervorbringt. Das ist kein Paradox, da Kontaktlosigkeit es eben immer nach sich zieht, als Verneinung doch einen Kontakt zu bilden. Es gibt immer eine soziale Atmosphäre und die in der Bahn bewegt sich als lebendiger Unwille.
Der phänomenologische Schluss lautet daher: wenn sich der Kontakt sowieso nicht vermeiden lässt, kann man auch miteinander reden. Der Austausch ist dabei im schlechtesten Fall eine Vermeidung eines peinlichen Raumgefühls. Doch kann man sich bei der Gelegenheit wie ein Adeliger benehmen, der nur deswegen freundlich zum Nichtadeligen ist, weil dieser Mitmensch sich nun nicht mal in Luft auflöst.
Sebastian Knöpker