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Die subjektive Reserve

Altenheimbewohner werden oft so verwaltet und versorgt, dass sie keine Privatsphäre mehr haben. Manch älterer Mensch reagiert darauf so, sich einen Rest Besitz zu bewahren, von dem nur er weiß, weil er ihn gut versteckt hat. Auf diese Weise besitzt er ein Geheimnis, eine subjektive Reserve.

Das Kleinkind wird auf die Art zum Individuum, Geheimnisse vor Anderen zu haben, also Dinge zu wissen, die nur es selbst weiß. In der einfachsten Form findet sich das im unbekannten Versteck, wenn das Kind sich im Wäschekorb oder im Kleiderschrank unbeobachtet aufhält und keiner sonst weiß, wo es steckt. Das Kind streift dann die Vielmaligkeit zugunsten der Einmaligkeit für einen kurzen Moment ab und kommt so auf den Geschmack.

Eine einfache Form der Individuierung ist also die Absonderung an einen geheimen Winkel. Eng damit verwand ist der geheime Besitz von etwas, das nur einen selbst angeht und von dem sonst niemand weiß. Briefe, Fotos, Schmuck, seltene Erstausgaben von Romanen erzeugen ebenfalls einen sehr individuellen Eindruck von sich selbst.

Die roheste Weise der Individuierung durch Geheimhaltung ergibt sich durch den Eigensinn, anders als die Anderen zu handeln, um so Eigenheit zu erzeugen. Der eigene Mensch macht oft Dinge, von denen er selbst nicht weiß, warum, fühlt sich darin aber innerlich bestätigt. Die Eigenheit wird dann durch Abweichung vom Üblichen hergestellt und nicht weiter auf ihren individuellen Wert befragt, weil sie ein Gefühl von Individuierung hervorbringt.

Eine anspruchsvolle Form des individuellen Stils durch Geheimnisbildung zeigt sich hingegen in der Geltung, die aus dem Individuum heraus nur für es selbst verpflichtend ist. Reine Geltung ohne materiellen Besitz oder örtlich gebundenes Versteck als Stütze, erfordert einen Sinn für den Halt in einem Existenzmodus, der abstrakt wirkt. Die Geltung von logischen Gesetzen, moralischen Normen oder selbst gegebenen Werten ist fast unsichtbar, doch ebenso wirklich wie ein Gegenstand, auf den sich zeigen lässt.

Setzt ein Mensch für sich die Geltung eines Gesetzes so kann er darin einen starken Mehrwert gewinnen, wenn er diese Geltung für sich behält, also beachtet und auch in strittigen Situationen umsetzt. Die eigensinnige Geltung, die nur für mich und durch mich überhaupt existiert, wirkt dabei als subjektive Reserve, als Geheimnis, das selbst für den Geheimnisträger nicht ganz zu entschlüsseln ist.

Der unbekannte Rest besteht dabei in der Kraft der durchgehaltenen Geltung, die sich dadurch bildet, dass das Individuum sie gelten lässt. Geltung wirkt so als potenzierend Kraft, dem Menschen mit seiner privaten Norm ein Plus an Selbstpräsenz, Selbstgewissheit und Individuierung zu vermitteln. Da es sich dabei um eine Tautologie handelt, kann man nicht ihr Wesen ergründen. Man wird sich selbst zu einem angenehmen Rätsel.

Insgesamt gilt: die subjektive Reserve, verstanden als etwas, das nur einen selbst angeht, ist ein wichtiger Faktor für die individuelle Existenz. Individuum kann man nur so sein, Reserven zu haben. Diese geben dem reservierten Menschen einen Stand in sich und oft eine Selbststeigerung und eine Selbstbestätigung als Individuum. Die Subjektive Reserve steht dabei außerhalb jeder Moral, da sie als Wirkprinzip amoralisch ist: sie wirkt genauso gut bei moralischen wie bei amoralischen Selbstgebungen.

Sebastian Knöpker