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Erdmannhausen (II)

Im Zentrum von Erdmannhausen findet sich ein glänzend danebengelungenes Rathaus. Dahinter steht ein Hühnerstall, was Privates, aber mit industriellem Anstrich. Es handelt sich um eine kleine Hühnerfabrik, in dem Hühner ohne Hahn eingesperrt sind. Weil der Gockel fehlt, kräht die Alphahenne wie ein Hahn und überdüstert ganz Erdmannhausen mit diesem falschen Ton.

Erdmannhausen zeigt die Grenzen der Transposition der Geschlechter auf: Nicht jede männliche Rolle kann von einem Weibchen übernommen werden. Kräht die Oberhenne wie ein Hahn, ist doch was Falsches dran. Diese in sich gekrümmten Töne strahlen etwas Bedrängendes aus.

Tagsüber verschwindet das Unheilvolle des falschen Gockels im allgemeinen Lärm, aber frühmorgens um fünf weckt die Henne die Menschen rund ums Rathaus auf. Die verdrehte Hühnerwirklichkeit holt dann die Erdmannhäuser ein und ist bald in ihr Innerstes eingedrungen.

Der Geflügelzüchter selbst empfindet die Tonlage anders, juristischer. Wo nämlich kein Hahn kräht, kann sich auch keiner über mutmaßliches Krähen beschweren. Der Züchter liebt das Geflügel und überhört die benebelnde Eintönung Erdmannhausens.

Im Osten Erdmannhausens steht ein großer Hühnerstall am Ortsrand, so auf die moderne Art, halb offen und mit freiem Auslauf. Nachts wird das Hühnerhaus von verschiedenen Strahlern angeleuchtet und erzeugt unterschiedliche Schattenwürfe der Hühner, die auch nach der Dämmerung immer noch herumlaufen und scharren. Die Schattenproduktion der Tiere gibt ihnen etwas Widersprüchliches und nicht Festgelegtes.

Die Hühner selbst sind auch irritiert. Denn tagsüber geht es dem einzelnen Huhn nur darum, da den Wurm zu finden, wo bereits ein anderes Huhn ist. „Es geht mir ausgerechnet um dieses Stückchen Raum, das sie mit ihrer Person einnehmen“, gilt eine leichte Kollegenparanoia unter Hühnern. Im Dunkeln kommt aber noch der Schatten des Konkurrenzhuhns dazu, sodass das Gerangel noch gesteigert wird, da auch die Abschattung des Huhns selbst zum Mithuhn dazugerechnet wird.

Bei schwarzen und mauerfarbenen Hühnern kommt es im Dunkeln durch die punktförmige Beleuchtung zu Lichtreflexen konzentrierter Lichtwirkung. Die eigentliche Oberflächenfarbe des Huhns wird dabei durch einen oder mehrere Lichtflecke überstrahlt. Man sieht also gar nicht das Huhn, sondern einen Lichteffekt, der das Huhn gerade verdeckt.

In der alltäglichen Wahrnehmung stört uns das nicht, weil die Teile des Huhns, die man sieht, die verdeckten Punkte vergessen lassen. Es scheint, als ginge es hinter dem Fleck mit dem Huhn einfach so weiter.

Tatsächlich ist diese Setzung des Vollgegenstandes namens Huhn auf Basis einer Teilabschattung des Hühnerfederkleides natürlich eine phänomenologische Konstruktion: man sieht das Huhn gar nicht ganz, aber die fehlenden Aspekte werden hinzu wahrgenommen (apperzipiert).

In der Dunkelheit ist es nun möglich, umgekehrt zum Alltag nicht die Lichtflecke als unselbstständige Momente des Huhns zu sehen, sondern die Reflexe als Eigenleben, also ganz unabhängig vom Huhn bestimmte Gebilde. Das Resultat ist ästhetisch befriedigend: das Huhn hört auf, zu existieren (weil man eben doch die Reflexe und die Schattenrisse für das Ding „Huhn“ braucht) und die Reflexe gewinnen eine abgelöste Einzelexistenz. Die ästhetische Lust besteht dann in dem Effekt der Irrealisierung.

Erdmannhausen ist also ein Ort des Irrealen, geht man vom Huhn aus, von seinen akustischen Eindrücken (Ortsmitte) und von seinen optischen Wirkungen (Hühnerstall am Ortsrand). Hier ist man „noch so“, hier wird noch echte Phänomenologie betrieben.

Sebastian Knöpker