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Gottesgehorsam im Islam als Hedonismus

Jeder Mensch ist sich ein politisches Gebilde mit teilautonomen Staaten wie der Atmung oder der Verdauung, dem Ich, den Instinkten etc. Juckt es am Rücken, so ist das ein politischer Vorgang, weil sich etwas im Menschen kratzen will, andere Elemente des Selbst hingegen nicht. Es kommt zu einem Kampf, der Kratzimpuls gewinnt, übernimmt die Selbstregierung und übt Macht aus, während die opponierenden Kräfte gehorchen.

Der Mensch ist sich so sein eigener Gesetzgeber und betreibt im Kleinsten eine Mikrophysik der Macht für sich, die leicht durch sanfte Invasoren unterwandert wird. Denn eine Macht von außen kann dafür sorgen, dass der Mensch aus freien Stücken das will, was von ihm gewollt wird. Er will dann das von selbst, was er sonst zwangsweise machen müsste.

Die Katze überträgt ihren Willen gerne auf diese Weise. Sie droht nicht wie ein Sklaventreiber mit der Peitsche, sondern manipuliert sanft den Menschen. Sitzt sie vor der Tür, lässt der Besitzer sie rein. Will sie sofort wieder aus dem Haus, macht er ihr wieder die Tür auf. Überlegt sich die Katze es aber doch wieder anders, lässt er sie wieder rein. So macht er genau das, was die Katze will und fasst das Fremdinteresse als sein ureigenstes Interesse auf (vgl. Foucault 2001; Evagrius Ponticus 2017; Knöpker 2015).

1. Religiöse Demut

Gottesgehorsam als Unterwerfung empfangender Tiefe (Mensch) gegenüber gebender Höhe (Gott) stellt ein Verhältnis zwischen beiden her, indem der Demütige die Superlative Gottes als Präsenz, Macht und Sinn erfahren will. Demut ist also bescheiden unbescheiden, weil sie in der Unterwerfung unter die höchste Instanz durchaus bestimmte Dividenden Gottes erwartet, ganz klassisch etwa den Eintritt in das Paradies nach dem irdischen Leben.

Der Glaube an das Schicksal ist eine einfache Form der Unterwerfung unter eine metaphysische Macht. Einfach ist er darin, nicht mit Gott als Persönlichkeit zu tun zu haben, sondern mit einer Vorsehung, die jedem Menschen das Seinige ohne Möglichkeit einer Wahl zukommen lässt. Der gelebte Schicksalsglaube ist dabei etwa in der ländlichen Türkei konkret erfahrbar, wo die örtliche Bevölkerung die Lüste und Unlüste des Schicksals an sich erfährt.

In der dörflichen Türkei wird Allah im Alltag in der Form des kismet gelebt. Kismet ist das von Allah zugedachte Los, dem er nicht entgehen kann und das er zu ertragen hat. Die Rolle des Kismet zeigt sich unmittelbar in der männlichen Bevölkerung, die vorm Haus oder im Teehaus sitzt und sich keyif hingibt. Keyif ist ein Gefühl tiefer Gelassenheit und Souveränität, in der eine euphorische Nüchternheit mit der Stimmung der Unangreifbarkeit und einer Freude am Dasein eine Einheit ergeben.

Keyif steht in engem Zusammenhang mit Kismet: das Schicksal hat heute und morgen mit mir nichts vor; ich habe den nächsten Termin frühestens in sechs Wochen und akzeptiere die bestimmende Macht in mir, die es mir auferlegt, nichts zu machen und keyif zu betreiben. Diese Lust am Dasein ist dabei keine Form der Entspannung, sondern eine gesteigerte Intensität, in der man von Raum und Zeit weitgehend befreit ist.

In dieser Präsenz des Momentes bleiben aber alle Probleme und Problemlagen in ihrer Bedrängung erhalten, nur dass Druck und Belästigung nicht durchdringen und auf Abstand gehalten werden. Vorhandene Problemtitel dienen also dazu, die eigene Überlegenheit ihnen gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Sie stören nicht, sondern sind ein Störpotenzial, das nicht durchdringt und dadurch Souveränität spürbar macht.

Keyif ist die Domäne der alten Männer, die weder lässig noch cool sind, sondern durch vollständige Unterwerfung des Schicksals eine hedonistische Würde ausstrahlen, der man sich als Passant kaum entziehen kann. Geht man an einer Altherrenversammlung im Teehaus vorbei, wirkt deren atmosphärische Anmutung als Korrespondenz und man will sich dazu setzen. Dabei handelt es nicht um eine Atmosphäre im Genitiv (der Männer, des Teehauses etc.), sondern um eine Aufhebung der Relationalität in der Bildung einer Einheit von den gegebenen Subjekten, Objekten und Konstellationen (vgl. Knodt 1993, 48).

Keyif gehört zu den unmöglichen Freuden, da dieser Genuss gerade dann eintritt, wenn kein einziger günstiger äußerer Umstand erfüllt ist und noch dazu viele ungünstige Faktoren wirken. Nichts spricht für diese Freude und vieles gegen sie, aber trotzdem tritt sie ein. Formal ausgedrückt ist keyif die Freude an der bloßen Tatsache zu existieren. Weil ich bin, freue ich mich an meinem Leben. Wer durch kismet zu keyif gelangt, der muss keine Kekse essen, um darin seine Freude zu finden, muss nicht irgendwas machen, weil er sein Dasein und seine Freude ohne weitere Vermittlung bezieht. Er bewegt sich in einer hedonistischen Tautologie, in der die Tatsache zu leben zu einer gehobenen Tatsache als Daseinslust wird.

Hüzün ist eine Variante dieser Tautologie, die in ihrer Melancholie Lust an der Unlust hervorbringt. Türken, die hüzün betreiben machen das anders als die Adepten des keyif nicht öffentlich. Der Zugang zur schmerzhaften Lust an der Weltlosigkeit muss daher darin bestehen, in ein Haus eingeladen zu werden, wo der Familienvater in hüzün versunken ist und in seiner Familie sein intimes Publikum findet. Ganz geheim soll also die süße Traurigkeit nicht sein, so dass in Verbindung mit der intakten türkischen Gastfreundlichkeit ein Zugang zur türkischen Variante der Melancholie möglich ist.

Kismet teilt dem Leidenden anders als bei keyif die Schicksalsnotwendigkeit mit, in Leere Fülle zu finden, die zugleich schmerzt wie auch in ihrer Lebendigkeit eine Lust an der Seinssteigerung hervorbringt. Die paradox anmutenden Paare „Leere/Fülle“ und „Lust/Unlust“ sind dabei deskriptiv-phänomenologische Qualitäten und geben eine affektive Eigenlogik wider, in der Sich-Erleiden und Sich-Erfreuen eine unbedingte Einheit ergeben.

Das Feld der Melancholie ist dabei sehr weit gespannt, wie das portugiesische Saudade, die russische Melancholie oder die Akedia der Mönche zeigen. Ihnen allen gemein ist eine radikale Passivität, sich in sich einer größeren Macht gegenüberzustehen, die sich als Tautologie entwirft, Leere als Fülle und schmerzhaften Genuss zu empfinden, weil man sich selbst überhaupt spürt.

2. Seinsglaube beim Beten

Ein sunnitischer Muslim muss fünfmal am Tag zu bestimmten Zeiten beten. Führt er dieses Gebot aus, so stellt er damit allein keineswegs seinen Gehorsam gegenüber Allah bereits unter Beweis. Das Beten muss mehr als Gymnastik sein und mehr als ein Erfüllen der Norm. In ihm wird ein persönliches Band zu Allah gesucht, einen Kontakt nicht wie zum Schicksal, das anonym bleibt, sondern eine persönliche Verbindung.

Da Allah nicht zum Gläubigen redet und nach dem Beten ein Regenbogen, der zufällig erscheint, auch nicht als Ausdruck des Gehörtwerdens gedeutet werden kann, stellt sich die Frage nach dem Medium seines Erscheinens. Prinzipiell bleibt er unsichtbar, aber es bleibt noch die Möglichkeit, den Modus der Phänomenalität selbst zum Ausdruck zu wählen, den Seinsglauben.

Glaube und Seinsglaube sind keineswegs metaphysische Artikel, die an höhere Wesen gebunden sind. Im Alltag findet sich der Glaube an das Sein z.B. beim kleinen Kind, das in seinem Teddybären nicht bloß ein Stofftier sieht, sondern den Bären schlechthin. Die gesteigerte Wirklichkeit des Kuscheltiers zeigt sich dann, geht der Bär verloren und ein qualitativ identischer Bär wird dem Kind zurückgegeben. Die Wirklichkeit des Stofftiers ist dann zwar gegeben, doch ist dieser Bär im Seinsglauben des Kindes nur ein Bär unter anderen.

Der Unterschied besteht darin, dass der perfekte Ersatzbär kontingent ist, d.h. in seiner Wirklichkeit zwar genau so ist, wie er ist, aber keineswegs notwendig ist, sondern beliebig. Er ist in der kindlichen Wahrnehmung nur ein Bär unter vielen (Kontingenz), also rückgebunden an die vielen Möglichkeiten sonstig existierender Bären. Möglichkeit und Wirklichkeit sind somit nicht radikal voneinander getrennt, sondern bilden im Alltag zusammen mit der Kategorie der Notwendigkeit ein sehr fein abgestuftes Empfinden vom Grad der Wirklichkeit (vgl. die Theorie der Modalisierung bei Husserl (1972)).

Ein Hotelzimmer ist so immer wirklich, doch in seiner Beliebigkeit (Hotelzimmer einer Kategorie sehen alle gleich aus) eben gebunden an die vielen anderen möglichen und wirklichen Zimmer. Diese Relation macht den Aufenthalt im Hotel zu einer fragwürdigen Angelegenheit: man möchte sich nicht dort aufhalten, wo das Wirkliche kontingent ist. Das eigene Zuhause hat demgegenüber den Vorteil, an die Notwendigkeit gebunden zu sein, eben gerade so und nicht anders, und auch nicht eines unter anderen zu sein.

Der Mensch besitzt einen ausgeprägten Wirklichkeitssinn in der Alltagswahrnehmung: die Dinge sind im Wahrnehmungsurteil wirklich, möglich, wahrscheinlich, fraglich, zweifelhaft oder evident: was ist, wird jeweils mit einem Modus versehen und dieser Modus ist nicht bloß ein Vermeinen von Wirklichkeit, sondern deren Setzung. Das Seinsurteil (etwas ist oder ist fraglich) setzt also seine eigene Wirklichkeit und übersteigt somit die Erkenntnis und betätigt sich ontologisch als Seinssteigerung, die niemals richtig oder falsch sein kann, sondern als Phänomen absolut ist.

So wie beim Kind sein Lieblingsstofftier wirklicher als wirklich ist, so kann auch beim Beten der betende Leib modalisiert werden. Sind die äußeren Bewegungen und das Sprechen des Gebetes selbst auch noch so kontingent, so ist ihr Vollzug beim Gläubigen es nicht. Die Aktfolge des Betens (Noesis) übersteigt nämlich ihren inhaltlichen Gehalt (Noema) und modalisiert eben diesen Inhalt als gesteigerte Wirklichkeit.

Da Allah die höchste Wirklichkeit ist, so kann er sich selbstverständlich auch als Seinsmitteilung diesen Grades dem Gläubigen mitteilen, da er sich nicht sichtbar in den Handlungen des Gebetes macht. Was konkret wahrgenommen wird, ist nur das Material als hyletischer Stoff, an dem sich die Modalisierung zeigt. Sie bleibt als affektive Phänomenalisierung unsichtbar im Sichtbaren.

Die Lust an der Modalisierung besteht dabei in der Steigerung des Seins, d.h. des Selbstgefühls oder einfacher ausgedrückt der eigenen Lebendigkeit. Die Seinsversicherung als das, was man sonst auch ist, nur eben nun in der Potenzierung seiner Wirklichkeit, stellt zugleich einen hohen Genuss dar wie auch eine Fundierungsleistung als Sinnerfahrung dar. Wer die Kontingenz zugunsten der Wirklichkeit erlebt, die an die Notwendigkeit gebunden ist, der erfährt sich auch als absolut fundiert. Sinnerfahrungen schließen dabei Lusterfahrungen nicht aus, sondern ein.

Das Beten ist eine Praxis, in der diese Modalisierung stattfinden kann und eine sublime, aber zugleich evidente Kommunikation mit dem Sein stattfindet. Phänomenologisch stellt also das Beten nicht einen Aberglauben, sondern einen Seinsglauben dar. Indem man betet, gewinnt Allah seine Wirklichkeit und indem man ihm gehorcht, wird er wirklich. Der Gehorsam setzt also keineswegs in ontologischer Hinsicht Allahs Existenz voraus, sondern bringt ihn aus dem hervor, was an Gehorchen im Muslim steckt.

3. Sinnlicher Idealismus

Dreht der geizige Mensch im Winter die Heizung ab, dann friert er ordentlich. Aber er spart auch und dieses Sparen ist ihm genauso eine sinnliche Erfahrung wie das Frieren. Die Abschläge, die er an die Stadtwerke monatlich zu zahlen hat, werden ihm schließlich im Frühsommer zurückgezahlt und aus seiner Sicht zurückgeschenkt. Er bekommt zwar weniger zurück, als er bezahlt hat, empfindet es aber als Vermehrung seines Kapitals.

Wer seiner Natur nach geizig ist, braucht kein Sparschwein, in das er alle halbe Stunde ein Zwanzigcentstück wirft, um das Sparen zu empfinden. Das Telos des Sparen teilt sich ihm unmittelbar als actus purus im Sinne von Aristoteles mit. Formal ausgedrückt ist es dem Menschen also möglich, seine Gegenwart von einer möglichen Zukunft her zu erleben. So ist auch dem Verlierertyp sein Misserfolg immer gegenwärtig, weil sich das Telos des Verlierens in ihm sinnlich vollzieht. Es hat keine Anschauung, aber es ist eine affektive Größe, die so unmittelbar erlebt wird wie das Wetter.

Der Verlierer als Typus ist also nicht nur eine soziale Zuschreibung von außen, sondern ein Vollzug im Verlierer selbst, der darauf beruht, das Kommende als Weg hin zum Telos zu empfinden. Das Auf-dem-Weg-sein als Vollzugsgefühl macht ihn zum Verlierer. Ähnlich ist es mit dem Karrieretypen, der unbezahlte Überstunden nicht bloß als Karrierechance auffasst, sondern als konkretes Vorankommen auf dem Karriereweg. Indem er Überstunden macht, empfindet er sein Karrieremachen hintergründig als unmittelbare Handlung.

In jeder konkreten Handlung kann es also noch weitere Schattenhandlungen geben, in denen sich das Abstrakte so wie der Gang zum Supermarkt erleben lässt, jedoch ohne jede Restanschauung. Das hat eine moralisch-hedonistische Anziehungskraft, denn so kann ich einen Mähdrescher aus den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts kaufen, ihn von Hand und mit viel Geld renovieren und mich dabei als moralisch wertvoll empfinden. Denn ein Teil des landwirtschaftlichen Menschheitserbes wird so von mir gerettet und ich fühle mich als Retter.

Oder ich gehe ins Tierheim und beseitige dort die Haufen der Hunde, füttere und streichle sie. Wenn ich das mache, habe ich zugleich die Handlung in diese sichtbaren Vollzühe eingebracht, ein moralischer Mensch zu sein und Moral zu vollziehen. Teleologisch betrachtet passen also in eine Handlung noch viele weitere hinein, wenn man entsprechende Teloi in ihnen unterbringt und auf dem Weg hin zu ihrer Verwirklichung ist.

Als Muslim ist das besonders attraktiv, da im gottgefälligen Leben nicht nur die Moral als Wert empfunden werden kann, sondern auch der Gehorsam Gottes gegenüber. Das sind unterschiedliche Aspekte, die etwa im Almosengeben erfahren werden können. Gibt der Muslim etwas von sich an den „Hilfsbedürftigen“, so finden sich darin drei Vollzüge: die Transaktion des Geldes oder der Ware, der Gehorsam Allahs gegenüber und die Verwirklichung eines moralischen Gebotes.

Da es auch möglich ist, zu geben, ohne dabei den Wert des Gottesgehorsams und den der Moral zu empfinden, zeigt sich darin der Unterschied zum teleologischen Erleben. Der Vollzug eines Telos kann verarmen, wenn er rein von der Sache der Transaktion her gesehen wird. In diesem Fall werten die Werte nicht und bleiben bloße Substantive.

Fasten, Beten, Geben und der Hadsch sind für den gläubigen Muslim nun viele Möglichkeiten, den faden Alltag als Tun der Dinge, die getan werden müssen, zu bereichern. Die Pilgerfahrt nach Mekka wird so zu einem Superplus, weil nicht nur touristische Erlebnisse darin stecken, sondern auch das metaphysische Telos, an die heiligen Geburtsstätten des Islam zu kommen.

4. Hedonistische Demut als Ethik

Demut hedonistisch zu interpretieren bringt eine fröhliche Anthropologie zustande, die auch außerhalb einer bestimmten Religion und außerhalb jeder Religion überhaupt gilt. Entscheidend ist dabei das Verhältnis des Individuums zu sich als radikale Passivität gegenüber Aspekten des eigenen Selbst, die unverfügbar sind, selbst aber verfügen (regieren). Das bedeutet: sofern ich es schaffe, mir selbst in mir Selbst so gegenüberzustehen, dass ich Teilen dieses Selbst fremdbestimmt ausgeliefert bin, kann ich bestimmte Lüste leben.

Aus hedonistischer Perspektive ist dieses Unverfügbare nicht Gott, sondern das Leben. Die Bedeutung dieser Rückbindung wird dann deutlich, wenn man die Formel des keyif wieder aufnimmt. Sie lautet darauf, sich am bloßen Leben zu erfreuen, weil es eben gespürt wird. Ein Bad im eiskalten Wasser bringt diese Daseinslust (aponia) genauso auf wie ein Gang in die Sauna. Auch das Fasten wird nach einiger Zeit eine solche Lust am Leib mit sich bringen, so wie der Genuss einer deftigen Schlachtplatte (Würste, Sauerkraut, Kartoffeln) eine Tautologie der Freude am Leib, bloß weil er gut gefüllt im so genannten Ausbauchen empfunden wird. Die Verdauung wird dann zum Ort des tautologischen Behagens.

Dabei ist es nicht entscheidend, dass Würste gegessen werden, Kälte oder Hitze verbraucht wird. Entscheidend ist es, die Eigenart des Lebens, sich als Tautologie zu entwerfen, für sich zu nutzen. Anders ausgedrückt hat das Leben vor jeder empirischen Eigenschaft die Neigung zur Selbstliebe, also sich an sich selbst zu mögen oder, wie im Falle der Depression, sich nicht zu mögen, weil man eben sein Leben fühlt.

Darin steckt eine metaphysische Ökonomie, in der der Mensch als Lebendiger, der in jedem Augenblick sein Leben in sich hervorbringt, der Produzent seiner selbst ist. In einem radikalen Sinn ist das Leben deswegen passiv, weil man sich in diesen Ereignen nicht erwehren kann. Das Leben ereignet sich in jedem Moment in mir, ohne mein Zutun, und verlangt, presto subito gelebt zu werden. Ich kann es nicht ignorieren, weil ich mich sonst langweile, Angst- oder Schuldgefühle entwickele. Als Grundereignis in mir zwingt es mich, es zu leben, es sei denn, ich begehe Selbstmord.

Als Hedonist ein Verhältnis zum Leben aufzunehmen heißt dabei, sich selbst als unhintergehbaren Produzenten zu erfahren (Ankünftigkeit des Lebens), das eine seiner metaphysischen Eigenschaften, sich als Ataraxie, Aponie oder Akedia, kurz als hedonistische Tautologie zu leben, anhand der je verfügbaren Materie (Essen, Massage/Masseur, Kälte etc.) dann auch konkret lebt.

Natürlich konsumiere ich Würste oder die Saunawärme, um Formen der Daseinsfreude zu erfahren. Natürlich muss ich die tautolologische Leibeslust bei einem Marathon mir erst einmal erlaufen, aber entscheidend ist dabei nicht die „Kaufkraft“ in der Welt, sondern die des Lebens selbst. Das ergibt sich aus der Austauschbarkeit der Konsumartikel bei gleichbleibender tautologischer Lust, die mit koreanischem Sauerkraut, mit einem Schweinsbraten oder mit Fasten jeweils exakt dasselbe Ergebnis hervorbringen, nämlich die Lust am leiblichen Dasein. Das irdische Konsumgut ist austauschbar, während das Leben die Invariante des Konsums darstellt, die als passive Größe dem Menschen zukommt und hedonistisch richtig gelebt werden will. Der passive Produzent im Menschen (Ankünftigkeit des Lebens in jedem Moment) ist durchaus vom Konsum in der Welt angewiesen, aber diese Konsumartikel sind bei geschickter hedonistischer Ausrichtung keine knappen Güter, so wie z.B. das kalte Wasser als Mittel der Daseinslust unbegrenzt vorhanden ist.

Dasselbe gilt auch für die anderen beiden vorgestellten Lüste, die Idealisierung der Realität durch die Telologie und die Modalisierung der Wirklichkeit als Superplus. Hedonistisch betrachtet sind auch hier die konkreten Techniken so wie deren zugrundeliegenden Materien austauschbar, so dass es am Ende stets das Leben mit seinen vorempirischen Eigenschaften ist, das zur Lust führt. Mit anderen Worten findet sich die metaphysische Ökonomie von Produzent und Konsument auch hier wieder.

Das Verhältnis vom Leben zum Lebendigen ist dabei unverzichtbar, weil der Glaube an das Leben und seine Ankünftigkeit die unhintergehbare Voraussetzung für die Übersetzbarkeit einer Lust in einer bestimmten Erscheinung in eine ganz andere Erscheinung bei Beibehaltung des gegebenen Lustcharakters ist. Weniger technisch ausgedrückt: man muss sein Leben lieben und sich ihm unterwerfen, sonst wird der hedonistische Horizont beschränkt bleiben.

Die Parallele zwischen dem Gottesgehorsam im Islam und seinen Freuden zu den Formen radikaler Passivität im Hedonismus ist somit skizziert. Die Grundaussage ist es dabei, dass bestimmte Architekturen des Selbst, seien sie göttlich gedeutet oder rein phänomenologisch als Formen der Innersubjektivität (Monade) als anthropologische Konstanten aufgefasst, Bedingung für das Lusterleben sind. Der ambitionierte und existenzielle Hedonismus hat also trotz seiner Entgegensetzung zum Islam einige Gemeinsamkeiten. Sie bestehen in der Bindung an radikale Passivitäten im eigenen Selbst, aus deren Arbeitsteilung heraus erst selbstverfeinernde Erfahrungen möglich sind.

Sebastian Knöpker

Literatur:

Evagrius Ponticus (2017): Chapitres sur la prière, Paris: Les Éditions du Cerf

Foucault, Michel (2001): L‘ herméneutique du sujet, Paris: Seuil

Husserl, Edmund (1972): Erfahrung und Urteil – Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg: Meiner

Knodt, Reinhard (1993): Atmosphären, S. 39-69, in: Derselbe, Ästhetische Korrespondenzen, Stuttgart: Reclam

Knöpker, Sebastian (2015): Die Kunst der Durchflüsterung bei den Wüstenvätern, Düsseldorf: onomato Verlag