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Historische Gründe

Mein Onkel hat im Kofferraum seines Autos eine Müllhalde liegen, schwarze Bananen, zwei leere Flaschen Sekt, und ein Fahrradgepäckträger. Muss er mal etwas Sperriges transportieren, räumt er den Kofferraum aus und legt die einzelnen Artikel in der richtigen Anordnung auf den Garagenboden, um sie später wieder korrekt zurückzulegen. Hat es also historische Gründe, den Müllhaufen als feste Einheit zu betrachten?

Einen Haufen kann man von seinen Teilen her wahrnehmen, demnach ein Teil zu einem Teil kommt, wozu noch weitere Teile gelangen und so das Ganze von seinen Atomen her bilden. Man kann den Haufen aber auch vom Ganzen her sehen, so dass ein kleiner Teil, der von ihm abgezogen wird, die Form des Haufen irreparabel stört.

Ein Haufen Töne ist so sehr empfindlich, wenn man von ihm einige Noten abzieht und nicht spielt. Man mag die Musik dann oft nicht mehr, weil dem Klangganzen das Entscheidende fehlt, d.h. seine Form, die deswegen beschädigt ist, weil der kleinste Klang in ihr nicht mehr erklingt.

Komponisten nutzen diesen Umstand, indem sie erst einmal einen unfertigen Tonhaufen präsentieren, der sich ganz ordentlich anhört, aber nicht weiter beeindruckt. Später dann wird dem selben Haufen in der Wiederaufnahme ein kleiner Ton hinzugefügt und siehe, seine Form wird im Erleben des Hörers komplett, so dass er sie als genial empfindet.

Diese Variation findet in der Zeit statt und besitzt so historischen Charakter. Es ist die Bedingung, dass erst etwas Halbes ertönt, damit später, wenn die volle Klanggestalt empfunden wird, ein Rückbezug zum Halben einen schmeichelhaften Vergleich im Empfinden zustande bringt. Dennoch kann man nicht davon reden, dass hier historische Gründe vorliegen, die entscheidend für den Musikhedonismus wären. Die Vorgeschichte spielt eine Rolle und ohne sie gäbe es den Effekt nicht, aber wesentlich ist die gegenwärtig ausgeübte Fähigkeit, das Ganze als Einheit der Apperzeption wahrzunehmen, also als Unteilbares.

Dinge, die ihrer Natur nach nicht zusammengehören, als Einheit aufzufassen, ist eine Leistung des wahrnehmenden Menschen, nicht der Geschichte selbst. So ist zum Beispiel die Kategorie Oper logisch defekt – bestimmte Singspiele werden nicht dazu gezählt, obwohl sie dazu gehören, und andere werden in diese Kategorie eingebracht, obwohl sie von ihren Eigenschaften her gar nicht dazu passen. Die Entwicklung der Oper als Konsumgut über die Jahrhunderte ist der Grund dafür.

Das bedeutet aber keineswegs, dass sich hier die Geschichte selbst melden würde. Sie ist bloß der Aufhänger dafür, dass disparate Elemente vom Menschen zu einer unteilbaren Einheit geformt werden. Das werden sie in jedem Augenblick neu, in jedem Akt der Wahrnehmung auf ahistorische Art. Diese Leistung findet in der Gegenwart statt und ist der Vergangenheit ganz fremd und sei diese auch nur einige Sekunden her.

Dass etwas historische Gründe habe, legt eine besondere Würde nahe, die aus eben diesen historischen Gründen heraus gar nicht bestehen kann. Onkelchen, der Mann mit der Müllhalde im Kofferraum, die er als histotisch wertvoll gewachsene Einheit betrachtet, ist aber immer noch Jemand, der einer Anzahl Gegenstände ausgehend von der gegenwart seine Form als Ganzes verleiht.

Die Kategorie der Oper ist ebenfalls eine Missgeburt, die nicht durch ihre Geschichte rehabilitiert werden kann. Wird ausgehend von der Gegenwart eine Einheitsbildung des Unvereinbaren vollzogen, fügt das dem Fehler keine Rehabilitierung zu, nur weil er historische Gründe hat. Die Ellipse „historischer Grund“ ist also phänomenologisch betrachtet bedingt durch die Zeitrichtung „Gegenwart zu Vergangenheit“ wenig vertrauensbildend.

Sebastian Knöpker