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Phänomenologie vor Ort: im türkischen Supermarkt (II)

Unvergleichlich vibrierend geht es im türkischen Supermarkt zu. Hier treffen sich unterschiedliche Subgenres der türkischen Lebensart, in der die Evolution des deutschen Türkentums phänomenologisch gelebt wird.

Auf eine Art älter zu werden, die nicht auf Verfall, sondern auf Konservierung hindeutet, ist nicht die Sache der Deutschtürken. Bei ihnen dominieren zwei Ansätze: möglichst schnell alt werden und als Endzwanziger schon wie ein Endvierziger auszusehen oder möglichst lange jung wirken.

Im türkischen Supermarkt kommt es so zu Begegnungen von eilig gealterten Türken mit den ewig jungen Typen. Beide sind natürlich verkleidet und kennen alle Tricks, wie man lange vor der Zeit alt aussieht oder noch lange nach der Zeit jung wirkt. Ein Mittvierziger, die wie ein Zwanziger wirken will, steht so an der Kasse wie ein Junger, der wie sein eigener Vater aussieht.

Auch bei den Frauen gibt es diesen Effekt, der noch auf das Gegensatzpaar „Frau – Mutter“ ausgedehnt wird. Zwei gleichaltrige Türkinnen, die eine Mutter und keine Frau mehr und die andere Frau und keine Mutter, wirken so wie Tag und Nacht, wenn sie einander zwischen den Regalen begegnen. Und selbst wenn beide übergewichtig sind, so ist der Speck der Mutter eben anders als das Zuviel bei der Nichtmutter. Die Mutter neigt zum Embonpoint als Ganzkörperhülle, während die Frau nur an bestimmten Stellen angesetzt hat.

Wer nun meint, die Türken in Deutschland seien besonders konservativ, der kann durch einen einfachen Vergleich türkischer Supermärkte aus verschiedenen Ländern schnell vom Gegenteil überzeugt werden. Deutschtürken sind nicht konservativ, sondern werden mit halben Ja und halben Nein durch die deutschen Gewohnheiten geprägt und mitgeschleift.

Sie würden gerne erfolgreich konservativ sein, sind es aber nicht so wie die Austrotürken in Wien. In einem türkischen Supermarkt in Wien sind die echten Konservativen anzutreffen, adjustiert wie in den siebziger Jahren. Da können dann auch die konservativen Elemente in Supermärkten in der Türkei nicht mithalten.

Sebastian Knöpker