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Phänomenologie der Demenz

Ein alter Traum: demente Menschen leben wie der Meditierende in reiner Präsenz. Sie nehmen ihr Dasein ohne jede Vermittlung über Zeichen und Welt als solche war und haben darin Fülle, Intensität und Daseinslust sicher. In seiner gelebter Wirklichkeit erlebt der Demente jedoch lauter huschende Gegenstände, die stets aufs Neue ihre Bedeutung verlieren.

Ich wusste einmal was, kann mich daran aber nicht mehr erinnern. Diese Form des Vergessens kennt auch die demente Variante, etwas zu wissen, das in Echtzeit seine Bedeutung verliert. Typischer Fall dafür ist der Internetkonsum, Information im Akt des Aufnehmens schon wieder zu entleeren und vom Bekannten in das Unbekannte zu überführen. Im Akt des Aufnehmens des Unbekannten, das zum Bekannten wird, wird damit das kaum Gewusste schon wieder vergessen.

Ein Alzheimermensch wird auf diese Weise vergessen. Er hat etwas nicht mehr im Griff, das er nie ganz im Griff gehabt hat. Wie beim digitalen Idioten wird nämlich das zu Vergessende im Akt der Kenntnisnahme nicht ganz durchdrungen, sondern nur ansatzweise. Alzheimer wird oft als Geschichte des Vergessens in langen Zeiträumen aufgefasst, aber tatsächlich ist auch das vergessen in Zirkeln und das Vergessen des nicht richtig Gewussten und Erinnerten.

Die Entleerung des Bekannten in das Unbekannte hinterlässt ein Irgendwas als das Unbefriedigende. Es bleibt ein Randbewusstsein, dass etwas nicht richtig da gewesen ist, dass jetzt aber noch weniger greifbar ist. Der Wille, das Irgendetwas zu erhaschen, bleibt unbefriedigt und erzeugt einen Unwillen. Ab einer bestimmten Phase ärgert sich der Demente nicht mehr, lebt aber weiter in einer vagen Stimmung, dass da etwas ist, was für ihn nicht mehr erreicht werden kann.

So kommt es auch zu einer Fusion von halben Gegenständen: mehrere Irgendwasse können zusammenfinden und als Phantasie der leeren Gegenstände eine kranke Synthese bilden. Diese Apperzeption des Verdrehten, die Verdrehung nicht ein bloßes Gefühl, sondern die zur Einheit aufgefasste Summe der Verkehrtheit, was man auch Lebensgefühl nennen kann.

Das Verdrehte der Gegenstandskonstitution kann allerdings auch etwas Erfreuliches bilden, denkt man an die Kunst und hier an den Kubismus. Die gemalten Beinahe-Gegenstände, unrealistische Dinge mit bloßer Gegenstandanmutung, werden vom Betrachter konstituiert, gelangen aber nie zum ausgeprägten Gegenstandspol. Das Resultat: eine angenehme Demenz. Die wechselnde Irgenwasse als Prinzip der Aktfolge „unscharfen“ Sehens macht den Kubismus aus.

Demenz kann somit verschiedene Formen annehmen, die Alltagspathologie des digitalen Trottels, Alzheimer oder die kunstvolle Verwirrung in der Ästhetik. Allen gemein ist das Vergessen als Entleeren der Bedeutung von Begriffen und Gegenständen, die überhaupt nie zum vollgültigen Ding oder Begriff geworden sind.

Sebastian Knöpker