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Hyperphänomenologie

Die Hyperphänomenologie behandelt die Phänomene, die mehr sind, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Dieser Überschuss als Exzess an Wirklichkeit, manchmal Bedeutung, immer aber an Bedeutsamkeit ist das Hyper, Thema der Phänomenologie.

(1.) Jeder intentionale Gegenstand weist ein Übermaß gegenüber seiner Teilanschauung auf: ich sehe ein Haus, gegeben sind mir nur einige Teilansichten, doch habe ich den ganzen Gegenstand. Das Hyper (das Mehr, die Übersteigerung) besteht also darin, gar nicht alles vom Haus zu sehen, doch das ganze Haus als ideellen Gegenstand zu haben (Franz Brentano / Edmund Husserl).

(2.) Jede Freude ist zugleich auch ein Leid. Diese Identität von Sich-Erleiden und Sich-Erfreuen zeigt sich bei der Lust am Schmerz (Chili, Szechuan-Pfeffer) und in der Musik (Traurigkeit als lebendige Lust in vielen von Bachs Kantaten). Das Hyper der Lust als das Leiden (und umgekehrt) ist eine Grundbedingung für die Bildung von Selbstgegenwart, also Eigenschaft aller Phänomene, soweit diese dem Begriff des Bewusstseins entsprechen (Maine de Biran / Michel Henry).

(3.) Jedes Phänomen hat einen Horizont an Möglichkeiten, die darin mehr als bloß möglich sind, bereits empfunden zu werden, also ein Hyper der Aktualität bilden. Beispiel: ich höre einen Ton und antizipiere dazu die vermutlich folgenden Töne. Gegenwart, Vergangenheit und vorweggenommene Zukunft bilden zusammen die „Melodie“, so dass Wirklichkeit und Möglichkeit (Hyper) das Phänomen bilden (William James / Edmund Husserl).

(4.) Jedes Phänomen besitzt als Hyper einen Modus. Beispiel: ein kleines Mädchen verliert seine Puppe, die nicht bloß wirklich, sondern auch notwendig ihre Puppe ist. Die Puppe lässt sich nicht durch ein Replikat ersetzen, weil dieses nur wirklich, darin aber bloß möglich im Sinne von zufällig ist. Modus meint also, dass etwas in dem, was es ist (Wirklichkeit) noch weiter ausgezeichnet ist, und zwar als möglich, fraglich, kontingent oder notwendig in seinem Sein („Seinsglauben“ bei Hume, Kant und Husserl).

(5.) Selbststeigerung meint ein Hyper nicht im Vergleich von Soeben zu Jetzt, sondern bezeichnet das Mehr in der Gegenwart des Phänomens. Der Orgasmus ist das klassische Beispiel hierfür: er stellt nicht bloß eine Lust da, die im nächsten Moment noch stärker wird, sondern ist sich in einem Moment eine Fülle auf Basis einer Fülle. Umgekehrt gilt: ein depressives Gefühl ist sich weniger als es tatsächlich ist, d.h. der Depressive fühlt einen Mangel auf Basis einer Fülle (Spinoza, Michel Henry).

Sebastian Knöpker