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Kairos / Chronos

eine praktische Philosophie der guten Gelegenheit

Sebastian Knöpker

Die modellhaften Vorstellungen von Raum und Zeit aus Naturwissenschaften und Mathematik sind auch für die Lebenswelt bestimmend, insofern man im Alltag Wirklichkeit und Wert von Raum- und Zeiterfahrungen danach ausrichtet. Der aus den popularisierten naturwissenschaftlichen Vorstellungen gewonnene Wirklichkeitsindex führt dabei jedoch zu einer Verengung des Erfahrungshorizontes, da all jene Raum- und Zeiterfahrungen, die nicht dem Index entsprechen, als bloß subjektiver Schein aufgefasst werden. Husserls Kritik an dieser indirekten Mathematisierung in seiner „Krisis“-Schrift lässt sich anhand der Bestimmung der Wirklichkeit des Möglichen, die populären Vorstellungen eines logischen Möglichkeitenbegriffs folgen, ausweiten. Ist dabei die Verengung des Feldes der Erfahrung des Möglichen auch eine Folge des Zeitalters der Aufklärung, hier verstanden als Emanzipation von christlich-metaphysischen Vorstellungen des Möglichen, so ist eine Aufklärung in der Aufklärung notwendig. Sie besteht im Kern in einer Klärung dessen, was das Mögliche im Bewusstsein möglich macht.

1. Die Möglichkeit als das „abwesend Gegenwärtige“

Der Möglichkeit wird der populär-logischen Auffassung nach nur insoweit eine rudimentäre Wirklichkeit zugestanden, als dass sie sich prinzipiell als wirklich und notwendig in der Zukunft erweisen kann. Notwendigkeit und Wirklichkeit erhält die Möglichkeit also erst dann, wenn sie sich realisiert. Als Garant der Realisierung gilt dabei im Alltag die evidente Wahrnehmung, allen voran das Sehen. Deren Evidenz ergibt sich wiederum aus einer Teilhabe an einem objektiven Sein, welches unabhängig von jeder Wahrnehmung gegeben ist. Zwar gibt es im Alltag sehr unterschiedliche naturwissenschaftlich angeleitete Auffassungen vom Möglichen, doch begegnen sie sich in dem Punkt, wonach die Möglichkeit als solche noch keine Wirklichkeit hat, es sei denn als Geltung, sich verwirklichen zu können.

Dem sei entgegengesetzt: das Mögliche ist stets effektiver Bestandteil aktuellen Erlebens. Dies gilt etwa für Hörerlebnisse, die mit solchen Tönen aus der Synthese des aktuell Erklingenden gebildet werden, die gerade eben verklungen sind und mit dem noch nicht Erklungenen, aber protentional bereits Vermeinten, eine Einheit musikalischen Erlebens bilden. Hört man zum Beispiel eine Melodie, so ergibt sich das Hörerlebnis aus dem gegenwärtig erklingenden Ton, dem Noch-Nicht des kommenden Tones, welches im Medium des Gefühls vorweggenommen wird und dem Gerade-Eben-Vorbei, welches als Retention noch nachklingend im Strom des Bewusstseins gegeben ist. Jedes Hörerlebnis überhaupt hat nur insoweit Wirklichkeit, wie es dieses Noch-Nicht beinhaltet.

Was noch nicht ist, hat also im auditiven Bewusstseinsstrom bereits eine Präsenz und tatsächlich könnte es ohne das Noch-Nicht überhaupt keine Bewusstseinsgegenwart geben. Dasselbe gilt für den Tastsinn und hier insbesondere für die erotische Berührung. Es ist nicht nur das unmittelbar Berührte, was das erotische Erleben einer Berührung ausmacht, sondern auch das vom Unmittelbaren Entfernte. Dieser Ort der Distanz kann dabei nicht im raumzeitlichen Gefüge verortet werden. Denn es handelt sich nicht um einen Ort, der durch die Verhältnisse zu anderen Körpern relational bestimmbar wäre. Im Rahmen eines scheinbaren Paradoxes könnte man von einer Einheit von Nähe und Ferne sprechen. Diese Fernnähe bezeichnet die Einheit des unmittelbar Berührten mit einem Ort in der Ferne, der nicht im Horizont der physikalischen Welt einholbar ist. Die Ferne muss also Ferne bleiben, um als erotische Erfahrung Präsenz zu gewinnen. Jeder Versuch, sie im Zugriff des In-der-Hand-Haltens zu manifestieren, muss daher notwendig scheitern. Die Frage, wie der Ort erotischen Erlebens zu erreichen ist, lässt sich – anders ausgedrückt – nicht durch die Weisen des Zugreifens auf den Körper als Ding unter Dingen beantworten. Was sich als erfolgreich im Bereich der Weltbemächtigung erweist, ist es in Bezug auf das Erleben der Fernnähe nicht. Wie aber lässt sich die Fernnähe als Grundform der leiblichen Selbstbemächtigung theoretisch wie praktisch verstehen?

Vollversion (15 S.): Kairos Chronos_eine praktische Philosophie der guten Gelegenheit