Die Überschreitung von Vorschriften und Geboten ist dem Menschen ein Grundbedürfnis und eine Lust. Bei kleinen Kindern lässt sich die Neigung zur Überschreitungslust gut am Umgang mit dem weihnachtlichen Knusperhäuschen studieren.
Das Lebkuchenhaus wird gebacken, um irgendwann einmal aufgeknuspert zu werden. Die Kinder würden das Häuschen am liebsten gleich aufessen und zerstören, wissen aber nicht genau, wann sie loslegen dürfen. Deswegen brechen sie schon mal heimlich Schokolinsen ab. Darin haben sie ihre Lust an der Überschreitung, noch nicht zu dürfen, aber schon mal an den Rückbau zu gehen.
Aber auch für die Eltern macht es Spaß, die Kinder ein wenig im Unklaren zu belassen, um sie so zum heimlichen Abknuspern zu verleiten. Man macht das ja als treusorgender Papa eigentlich nicht, aber es bereitet eben Spaß, die Kinder sanft zu inoffiziellen Handlungen zu bewegen.
Die Verschiebung der moralischen Koordinaten um den geringsten Teil bringt also eine Lust zustande, die auf Französisch jouissance in Absetzung zum einfachen plaisir genannt wird. Gäbe es nichts an zu Überwinden, würde die Schokoteile bloß eine kleine Lust (plaisir) zustande bringen. Aber zusammen mit der Transgression bildet sich ein gesteigerter Genuss (jouissance).
Sexuelle Perversionen ernähren sich also nicht so sehr vom plaisir, sondern in erster Linie von der jouissance. Der erotische und sexuelle Lustgewinn muss vom Perversen mit einer Missachtung der Normen kombiniert werden, damit auch wirklich eine Lust daraus wird.
Zu puritanischen Zeiten war also die Masturbation in dieser Hinsicht lustvoller als heute, da sie nicht mehr als Perversität gilt. Früher war die Überschreitung des Verbotes von Selbstbefriedigung genauso ein konkreter Vorgang wie die lustvolle Reibung. Da nur noch die sinnliche Reibung bleibt, wird der Masturbation in dieser Hinsicht etwas genommen.
Auch der Karneval hat in der Relation plaisir/jouissance stark abgebaut. Heute ist er nur noch ein plaisir. Im Mittelalter war er ein Rollenspiel, in dem der Knecht für einen Tag der Herr war und ihm in den Hintern treten konnte. Die Überschreitung war dort zusammen mit dem Alkohol eine jouissance, die heute nur noch selten zu Tage tritt.
Zum Glück gibt es noch die Weihnachtsfeiern im Betrieb, die degenerieren und die Verhältnisse auf den Kopf stellen. Zu vergessen sind auch nicht die Kammermusikabende, auf denen nach dem musikalischen Teil Trinkunfug in dem Maß betrieben wird, dass die Leute aus ihren Rollen fallen. Es ist also noch nicht alles verloren.
Sebastian Knöpker