Auf der Suche nach der verlorenen Phänomenologie kann man bei der Uni vorbeischauen, im Hörsaal, in den Bibliotheken. Zur Zeit leider nicht im Sortiment. Dafür findet die Phänomenologie im öffentlichen Nahverkehr statt.
Heidelberg, Buslinie 34 nach Ziegelhausen: ein Mann mit Besen, so ein grüner mit dicken Borsten steigt aus dem Bus aus. Sobald er draußen ist, hält ihn nichts mehr. Es juckt ihn so sehr in den Fingern, er probiert seinen neuen, grünen Besen aus und fegt die Blätter aus dem Rinnstein vor der Bushaltestelle.
Phänomenologisch an der Kehrwoche außer der Reihe ist der Charakter der Gegenstandswahrnehmung des Mannes. Der Besen in der Hand als gegenständliche Wahrnehmung kann einen appetitus auslösen und auf das Subjekt eine Tendenz ausüben („Nimm mich in die Hand und probier‘ mich aus!)“.
Anders als gemäß empiristischer Auffassung nimmt er nicht einen Gegenstand wahr, der sich als Abbild präsentiert, sondern konstituiert in seinem Selbst den intentionalen Gegenstand „Besen“, der in seinem Bezug zum Subjekt ein Eigenleben führt. Teil dieses Eigenlebens ist der kinästhetische Zug des Besens, vor Ort benutzt zu werden. Statt Subjekt und Objekt liegt also eine Vielzahl von Bewusstseinsgehalten vor, die alle ein mehr oder weniger starken Zug zum Beharren, Vergehen oder Expandieren besitzen.
Was bei Sigmund Freud noch in der Trias „Es/Ich/Über-Ich“ schematisch kategorisiert wird, erhält in der vorprädikativen Phänomenologie die Auffassung einer Vielheit begehrender Gehalte des Denkens, Wahrnehmens, Vorstellens usw., die jeweils die Rolle des Subjektes und insbesondere des Ego anfechten, beeinflussen, bremsen oder bloß fungierend unterstützen.
Die Einheit des Selbst ist so ein Miteinander als Gegeneinander, in der auch noch der kleinste Erscheinungsgehalt eigene Tendenzen entfaltet. Eine solche schöne Tendenz hat den Besenbesitzer übermannt und initiiert von seinem Sog aus das Kehren. Phänomenologisch ist das Besen-Erlebnis darin, die Machtverhältnisse und in diesem Fall die kurzzeitige Machtübernahme einer Außenwahrnehmung über das Ich vorzunehmen.
Sebastian Knöpker