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Ortstermin Phänomenologie: Theoretiker der Verschwörung

Manche Verschwörungstheoretiker sprechen gerne mit Passanten über die Bananenpreise und das Wetter vorm Supermarkt, um dann schnell zu den wirklich wichtigen Sachen zu kommen. So einer erwischte mich gerade, als ich aus dem Laden kam.

Ein Mann, Mitte dreißig, erste graue Haare und mit Vollbart spricht mich an: „Schon bemerkt, die S-Bahnen werden immer kürzer.“ Ich stimme ihm zu, vertröste ihn aber darauf, dass sie bald auch wieder länger werden, nämlich zum nächsten Fahrplanwechsel, wenn neue Triebfahrzeuge auf der S 51 fahren werden.

So leicht lässt er mich nicht davon kommen. „Ja, aber warum haben sie den Mittelteil der Züge herausgenommen? Da stimmt doch was nicht!“ „Verschleiß.“ antworte ich ihm.

Er lässt sich nicht beirren, wechselt das Thema, redet von der Holocaustlüge, der Neuerfindung von Aids als Coronavirus und dem Klima-Komplott. Offenkundig hat er seinen Hauptwohnsitz im Internet, muss aber sein Oppositionsbedürfnis manchmal auch in der echten Welt abreagieren. Er macht immer weiter, erzählt über die fünfte Generation des Mobilfunks und darüber wie gut es ist, dass wenigstens er klar und logisch denken kann.

Mein Verschwörungstheoretiker ist richtig drin in diesem Thriller um 5G und die Klimalüge. Er ist der ständige Berichterstatter, der Beobachter, der eine aktive Rolle spielt, die Vorgänge sieht und versteht. Sicheres Zeichen für diese abstandslose Absorption ist seine ungläubige Reaktion, als ich ihn einen Verschwörungstheoretiker nenne. Damit kann er so wenig anfangen wie ein Tourist in Heidelberg, der als Tourist bezeichnet wird.

Selbstverständlich ist er ein bemerkenswertes Phänomen und darüber hinaus ein Stück Phänomenologie. Genauer handelt es sich bei ihm um die Phänomenologie des Vorgangs, um eine teleologische Phänomenologie.

So erzählt er, wie er in seinem ruhigen Wohnviertel freitags die Moslems in Massen zur nahen Moschee zum Beten gehen sieht. Er sieht darin aber nicht nur den konkreten Vorgang, dass Menschen Lokomotion betreiben und auf ein Ziel aus sind. Zusätzlich empfindet er darin den Vorgang der Übernahme der deutschen Kultur durch die Moslems. Was eigentlich abstrakt ist und sich über lange Zeit hinweg vollzieht, nimmt er freitags vor seinem Haus direkt und unmittelbar wahr.

Allgemein ausgedrückt: das Telos (Ziel) lässt sich nie anschaulich erleben, selbst bei einer Fahrstuhlfahrt vom Erdgeschoss in den 1. Stock nicht. Es wird vom erlebenden Subjekt stets als Antizipation entworfen. Aber dabei bleibt es nicht, denn die Gegenwart wird von dieser Vorwegnahme in ihrer Identität überstimmt: fährt der Fahrstuhl los, wird der Vorgang der Fahrt in den 1. Stock erlebt. Das aber ist gar nicht der Fall, betrachtet man die Fakten, die nur aus der Bewegung des Fahrstuhls und seiner augenblicklichen Position bestehen.

Die anschauliche Gegenwart dient also phänomenologisch betrachtet dazu, als bloßer Aufhänger des Telos zu fungieren. Das Telos ist notwendig abstrakt, da es in der Zukunft liegt und noch allgemeiner nur möglich ist, meisten auch prinzipiell unsichtbar bleibt. Trotzdem bestimmt es das aktuelle Erleben stärker als das unmittelbar Gegebene.

Die starke Tendenz des Menschen, Ziele vorzudatieren und als Vorgang ihrer Erfüllung zu erleben, die keineswegs zweifelhaft ist, sondern on der natürlichen Einstellung wie selbstverständlich vollzogen wird, ist stark ausgeprägt. Das gilt vor allem für den Pessimisten, der nicht in Wahrscheinlichkeiten denkt, sondern unmittelbar sinnlich erlebt, dass er gerade scheitert, obwohl das Scheitern – oder das Gelingen – erst noch aussteht.

Der Verschwörungstheoretiker ist demnach weniger ein Mensch der Theorie, sondern einer der Praxis, da er unvermittelt durch seine Apperzeptionen erlebt, wie die „Umvolkung“ gerade vor seiner Haustür stattfindet. Das Telos der kulturellen Überformung, so wie es in Siebenbürgen oder im Kosovo auch tatsächlich stattgefunden hat, hier sich aber nur möglicherweise vollzieht, erscheint ihm ein Vorgang zu sein wie ein Apfel, der vom Baum fällt, genauso klar und unverstellt.

Im Alltag nehmen wir nur selten Gegenstände war, sondern Gegenstände als Konstellationen, die teleologisch gefasst werden, also in Hinblick auf ihr Sollen oder Nichtsollen. Der Verschwörungstheoretiker vom Supermarkt an der Ecke erlebt nun ein sehr abstraktes Telos, das noch dazu in weiten Teilen faktisch falsch ist, als einen faktischen Vollzug. So wie Raum, Zeit, Kausalität und Gegenstände vom Subjekt selbst konstituiert werden, so gilt das auch für Vorgänge. Sie werden immer von einem Telos her erlebt, das unanschaulich bleibt, das Anschauliche (das Gehörte, Gesehene etc.) aber in seiner Bedeutung neu ausrichtet.

Sebastian Knöpker