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Rezension: Jujube – eine kurze Geschichte der Zeit

Im Fluxus der Zeit spielt sich schon seit Urzeiten ein Kampf zwischen dem Zeitstrom als bleibender Form und den einzelnen Erscheinungsgehalten der Zeit ab. Mal dominieren die einzelnen Zeitgehalte, mal hat die Form die Oberhand, aber der Kampf selbst spricht eher für eine Hegemonie des Zeitstroms an sich. Das ist jedenfalls die These von Jujube in Salzwasser (Originaltitel: Jujube op zuur).

Jujube in Salzwasser, 454 g, 227 g Abtropfgewicht, erschienen bei: Thai World Imp. & Exp. Ltd., Bangkok, 2020, Preis: 3.99 €

Die Jujubafrucht (Ziziphus jujuba), eingelegt in Salzlake, erzwingt die Dominanz des Zeitstroms durch den dubiosen Geschmack ihrer Aromapalette. Was im einzelnen geschmeckt wird, erinnert an ein tropisches Potpourri von Aromen aus dem Labor. Um die Geschmackspole von süß und salzig herum entwickelt sich die tropische Fruchtigkeit, die schließlich in einem salzigen Geschmack ihren langen Ausklang findet.

Obwohl die einzelnen Geschmackselemente und auch die einzelnen Geschmacksphasen nicht sehr wohlschmeckend sind, überzeugt die Jujube dennoch, weil sie auf den Zeitstrom selbst setzt, genauer auf den Übergang der einzelnen Geschmacksaspekte. Damit lösen sie sich vom einzelnen Einhalt und setzen auf die übergreifende Form der Zeit als Strom. Der Wohlgeschmack kommt also durch die Totalität der einzelnen Übergänge zustande.

Es ist unverkennbar, dass die Jujuba in der Tradition von Augustinus Zeittheorie steht und bei Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins Anleihen macht. Denn sie praktiziert die Zeitigung der Zeit gemäß der Synthese von Urimpression, Protention und Retention. Ihre Pointe ist darauf aus, einzelne Gehalte zu einer über den Moment hinaus gehenden Einheit zu konstituieren. Zunächst gibt es erste Geschmackselemente, im Laufe der Zeitsynthese im Schmecken Zeitsequenzenen und kurz vor dem salzigen Ende bereits eine zeitliche Einheit all dieser Gehalte des Erscheinens und erster Zeitsynthesen zu einem Gesamtgeschmack.

Als Beilage zur Jujube sind Husserls Vorlesungen über das innere Zeitbewusstsein (1928) zu empfehlen, die in ihrer Zurückhaltung an konkreten Beispielen viel an salziger Fruchtigkeit vertragen. Eine weitere Verfeinerung ergibt sich durch die Kombination von Chunky Chat (indische Gewürzmischung), gehackter Zwiebel und Limettensaft, in die kleine Schnitze von der Jujubeschale kommen. Zusammen mit dem Zwiebelsalat entwirft sich die Salz-Jujube geschmacklich neu und geht so auch stärker auf die Rolle der einzelnen Geschmacksträger als Erscheinungsgehalte ein. So wird das Verhältnis von Noema zu Noesis wieder ein wenig ausgewogener. Chunky Chat mit Zwiebel schafft es anders ausgedrückt die Dialektik von Inhalt und Form noch besser zum Ausdruck zu bringen.

Was ist nun von Jujube in Salzwasser zu halten? Kritisch ist das hohe Abtropfgewicht zu erwähnen. Zwar sind 227 g von 454 g Gesamtgewicht weniger Abtropfmasse als bei herkömmlichen Phänomenologieabhandlungen, die eigentlich nur aus Abgusswasser bestehen. Da aber nur die Schale verwendet werden kann und das Fruchtfleisch selbst kaum von Bedeutung ist, bleibt wenig Substanz. Von dieser quantitativen Kritik abgesehen ist die Jujube ein phänomenologischer Volltreffer und absolut empfehlenswert.

Sebastian Knöpker