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Phänomenologie der Schweiz

Ein Mensch, der lange ohne Verluste durchs Leben gekommen ist, entwickelt oft eine übersteigerte Gefahrenabwehr. Risikovorsorge heißt dann, ferne Risiken als reale Nachteile auf andere abzuwälzen. Das betrifft nicht nur Menschen, sondern auch ganze Länder, die Schweiz etwa.

Wie wertvoll ist ein Mensch, der seit langer Zeit von großen und kleinen Problemen unbehelligt geblieben ist? Er ist weniger wertvoll als der Gefahrengesättigte, geht es um sein Selbstgefühl. Dieser Wert ist dabei keine Zuschreibung von außen und auch keine Idealität. Er wird unmittelbar gefühlt und sich dabei stets sein eigenes und einziges Kriterium.

Die moralische Aussage „Jeder Mensch ist wertvoll“ ist phänomenologisch nur relativ richtig: zwar ist sich jeder Mensch in seinem Selbstempfinden ein Wert, aber in schwankender Intensität. Wer etwas von sich aufs Spiel setzt und dabei nicht untergeht, wird sich nach dieser Prüfung wertvoller fühlen.

Was man ist und hat, besitzt demnach nicht von sich aus einen festen Wert, sondern schwankt beträchtlich. Schwankungen nach oben ergeben sich durch die direkte Konfrontation mit Gefahren, Schwankungen nach unten durch ein dauerhaft abgesichertes und gefahrenloses Leben.

Wer beim Bergsteigen in den Schweizer Alpen an einer Felswand die Nacht überdauern muss, während mehrere hundert Kubikmeter Schnee von der Nordflanke her auf ihn in stetem Strom herabgeweht werden, fühlt sich danach wie ein runderneuerter Wert. Er fühlt sich  so wie ein Schwerkranker wertgesteigert, der schließlich geheilt wird. Manche Bergsteiger halten sich deswegen auch für einen besseren Menschen in moralischer Hinsicht (was nicht stimmt).

Hingegen stimmt es, dass der vielfach abgesicherte Mensch sowohl seinem Selbstgefühl wie auch meist seinem moralischen Niveau nach ein mürber Keks ist. Die moralische Falschheit zeigt sich gut an der Schweiz. Dieses Land wurde so lange nicht überfallen und gebrandschatzt, dass es eine übersteigerte Abwehr von allem zeigt, was auch nur aus weitester Ferne eine Gefahr darstellt. Demnach gilt, dass selbst die Einbildung einer Gefahr mit Maßnahmen begegnet werden muss, die dritte Parteien als konkrete Nachteile erleiden. Die Schweizer Ukrainepolitik ist ein Beispiel dafür.

Phänomenologisch überzeugt der Egoismus der Schweizer nicht, da sie sich selbst einen Wert zuschreiben, ihn jedoch kaum leben und empfinden. Sie müssen mit dem Mindestlohn des Selbstgefühls leben, während sie ihren Wert als ideale Größe vor sich hin halten. Diese Auslagerung des Wertes bringt dann einen schiefen Egoismus auf, da nicht das Wertgefühl verteidigt wird, sondern den idealisierten Wert, der weder von seiner Geltung her einer ist, noch real als Selbstaffektion auftritt.

Sebastian Knöpker