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Phänomenologie der Weckung

Kommt die Katze morgens ins Bett, schmeichelt, kitzelt und schnurrt leise, wacht man auf angenehme Weise auf. Die Weckung selbst wird zu einer Lust. Eine Phänomenologie der Weckung besteht also im Überschleichen von einem Zustand in einen anderen.

Gedichte wirken durch die Weckung eines Superplus an Bedeutung. Was man da liest, weckt lauter unklare Ideen, die als Überschuss in der Summe eine Weckungslust ergeben. Deswegen gibt es kaum Gedichte, die ihren Sinn frei Haus ohne weitere Unklarheiten abliefern. Erst durch den Einsatz von kleinen und großen Verzerrungen werden Ahnungen geweckt, die den Reiz der Dichtung ausmachen.

Die Realpolitik basiert ebenfalls auf unvollständiger Weckung, auf einem gehemmten Übergang von Unklarheit in Klarheit. Die Angst vor einem Grippevirus wird wie bei einem Gedicht dadurch geschürt, dass alles Mögliche passieren könnte – unnennbar schlimme Dinge weit über den Verlust von Onkel und Tante und über den eigenen Tod hinaus. Wie in der Lyrik besteht die Wirkung darin, dass die Weckung sehr viel mehr verspricht, als dann tatsächlich eingehalten wird. Das beständige Anheizen der Virusangst ist also ein politisches Geschäftsmodell, das phänomenologisch betrachtet unlauter ist, weil es viele weitere Lebensrisiken gibt, die nüchtern aufgefasst viel bedrohlicher sind, doch ungeweckt bleiben.

[N]un kann sich die Weckung nicht nur auf das Unbekannte beziehen, sondern auch auf das eigentlich bereits Bekannte. Da ist z.B. eine Reihe von Lichtern in der Nacht, die aus der Ferne herüberleuchten. Ein Licht in dieser Reihe leuchtet stark auf, es reizt die Aufmerksamkeit und weckt die Bedeutung der ganzen Lichterreihe. Ein Teil weckt also das Ganze.

Das lässt sich auf das sinnliche Schmecken übertragen, etwa auf den Einsatz von weißem Kampotpfeffer, der eine Serie von Zitrusaromen in sich trägt. Verstärkt sich in dieser Reihe ein Geschmackston, etwa eine süße Zitronensäure, wird die ganze Reihe gestärkt; fällt die süße Säure auf ihr Vorniveau zurück und ein pfeffriger Citrus verstärkt sich, so wird die Reihe abermals prägnanter. Tritt in der Folge eine weitere Zitronenvariante der Reihe auf, z.B. Grapefruit als bittere Zitrone, und gerät der Pfefferzitrus wieder zurück in den Hintergrund, so ist die Reihe weiter stark präsent, stärker als ihre Eigenmittel, ihr Reize von der Sache her es eigentlich erlauben.

Ist die Reihe der Aromen aber noch nicht geweckt und tritt ein Reiz auf, der sich selbst in die Aufmerksamkeit versetzt, so wird die ungeweckte Reihe erst richtig erweckt werden. Eine ganz schwach ausgeprägte Zitrus-Reihe, die zwar einen Reiz ausübt, der aber unbeachtet bleibt, kann so durch die Überschreitung der Schwelle eines einzigen Aromas ganz zur Erscheinung gebracht werden. Der Geschmacksgewinn fällt dabei dann stark aus, wenn die meisten Aromen der Serie unter der Schwelle liegen und abwechselnd über sie geraten bzw. wieder unter das eigene Radar fallen.

[D]iese Form der Weckung ist auch in der Musik am Werk. In ihr werden oft Melodien geweckt, indem ein einziger Ton besonders betont wird, so dass die ganze Tonreihe sich deutlich von der sonstigen Klangmaterie abhebt. In der Musik kann das Spiel noch weiter getrieben werden, wenn die geweckte Reihe ihrerseits in Unterreihen bestimmt wird, die zusätzlich geweckt werden. Ein Ton weckt die Reihe, und in der Reihe werden wieder Unterserien geweckt, was eine Lust an der Komplexität ergibt oder auch eine Überforderung des Hörers.

Die Phänomenologie des Weckens ist also reichhaltig: mit ihr kann man die Bevölkerung in Angst und Dauerschrecken versetzen, sich an Gedichten erfreuen, als Feinschmecker Sonderlüste entdecken oder in der Musik zu außerordentlicher Tiefe vorstoßen. Die Weckung ist nicht auf Inhalte festgelegt, sondern wirkt als Form, die sich immer neu erfinden kann. Die Form erhebt sich über den Inhalt und verschafft so das Gefühl von Sicherheit, Bedrohung, Lust oder Unlust.

Sebastian Knöpker