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Phänomenologie des Kapitalismus

Frühreife Sechsjährige beginnen ihre kapitalistische Karriere damit, Gleichaltrigen für einen Spottpreis ihre Spielsachen abzukaufen. Ihre Geschäftsidee ist einfach: weil die anderen Kinder nur wissen, was Geld allgemein ist, aber noch nicht, was ein Fünfeuroschein wert ist, kaufen sie die Dinge deutlich unter Wert und verkaufen sie dann später zum Marktpreis.

Das kleine Kind, das anderen Spielsachen zum Phantasiepreis abschwatzt, steht natürlich für den Kapitalismus insgesamt. Er zeichnet sich nicht so sehr durch Produktivität der Sache nach aus, sondern durch das Schaffen und Ausnutzen von Preisdifferenzen.

Andererseits besitzt diese Art des Wirtschaftens auch einen existenziellen Gewinn für den Kapitalisten. War der Junge gerade eben noch ein einfaches Kind, so gewinnt er mit seinen Import/Export – Geschäften einen ökonomischen Horizont hinzu. Die Horizontbildung ist dabei ein Weltgewinn, weil sich in ihm eine neue Welt bildet, die er vorher noch nicht besaß. Zwar lebte er auch vorher in der Welt, aber sie war noch eng und klein. Jetzt besitzt er innerhalb der Welt eine neue, ökonomische Sicht der Dinge, eine Welt innerhalb der Welt.

Das Spüren des kapitalistischen Horizontes gibt ihm dabei Halt. Das Kind verdient nicht nur Geld damit, sondern findet in seiner Masche Halt und Fundierung. Er kann also auf seiner Sache, dem Kapitalismus, stehen: er gibt ihm Stand und Sinn. Der ökonomische Austausch wird zu einem Wert an sich, dessen Währung das Empfinden von Sinnhaftigkeit ist.

Noch allgemeiner ausgedrückt bringt der Austausch von Waren, Energie und Gefühlen einen Mehrwert aus sich heraus zustande, der im Sich-Gründen besteht, im Fühlen, nicht haltlos zu sein, sondern einen sicheren Stand zu besitzen. Darauf beruhen auch Religionen wie das Christentum, indem es nicht einen Gott gibt, sondern einen Austausch zwischen Mensch, Gott, dessen Sohn und eventuell noch dem Heiligen Geist. Die Erzählung von der Arbeitsteiligkeit des göttlichen Personals gewinnt so Sinn.

Meister Eckhart ist dabei einer der herausragenden Vertreter der Ökonomie des Lebens als Gabe, die ihm zufolge nicht bloß von oben nach unten, sondern auch umgekehrt vom Menschen zu Gott geschieht. Darin findet sich die Intuition wieder, dass ein ausgetauschter Wert mehr Wert ist als ein nicht gehandelter. Die Theologie ist damit ein spezieller Fall der Ökonomie. Sie setzt auf das Handelsgut namens Leben, welches als Gabe von einem allmächtigen Wesen dem Menschen zukommen soll.

Man sieht: der Junge mit seinem Handelstrieb betreibt dieselbe Idee wie der Religiöse. Beide sind zwar weit voneinander entfernt, setzen aber aber auf den Wert des Austausches, demnach das Ausgetauschte an Wert gewinnt, weil es gehandelt wird. Im Austausch selbst liegt damit ein existenzieller Gewinn, der sich in Sinn, Halt, Fundierung und Gründung äußert.

Sebastian Knöpker