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Phänomenologie des Sehens

Niemand lädt gerne einen Putzfreak zu sich nach Hause ein. Denn der sieht auf den ersten Blick, dass hinter den Fußleisten die Silberfische wohnen und sich im Perserteppich die Milben räkeln. Dabei muss er noch nicht einmal nachschauen, um auch so zu wissen, wie und wo die Unsauberkeit herrscht.

Der Putzfreak ist nicht der richtige Umgang, weil man in seiner Anwesenheit Dinge sieht, die man sonst nicht sieht. Unwillkürlich übernimmt man den Horizont des Gastes und es bildet sich ein Hof an Schmutz und Unrat im eigenen Sehen.

Besser ist es also, Nachbars Kinder zu Besuch zu haben, denn sehen sie die Fußleisten, gibt es für sie kein Dahinter. Während der Reinliche aus der Leiste die Silberfische herausrät, belässt es das Kind beim Gegenstand, hinter dem nichts steckt. Es besitzt keine schmutzige Phantasie.

Denn darum geht es ja: um die Phantasie des Besuchers, der aus seiner eigenen Erfahrung heraus das ergänzt, was er gar nicht sehen kann, aber doch ganz richtig im Einschmuggeln seiner Erfahrungswerte in die aktuelle Situation einfügt. Der Skandal der Unhöflichkeit besteht also in der Fusion aus Phantasie und Wahrnehmung, durch die der Schmutz hindurch „gesehen“ werden kann.

Kinder zu Besuch sind also deswegen angenehmer, weil sie andere Horizonte des „Dahinter“ setzen. Als Gastgeber kann man nun mit „den Augen“ der Kinder sehen, also die Horizonte in den Dingen so setzen, wie das Kind sie sehen mag. Sieht das Kind eine Schublade, will es wissen, ob es dort hinein passt. Die Schublade inspiriert also einen unsichtbaren Horizont an Möglichkeit („Ich kann da hinein klettern.“), der so konkret gesehen wird wie die Schublade selbst.

Jeder Mensch will andere Menschen um sich herum haben, deren Sichtweisen als Horizonte des Ungesehen im Gesehenen erfrischend und inspirierend wirken. Hingegen möchte niemand in Heidelberg mit lauter Touristen auf der Alten Brücke stehen, weil die Art, wie der Durchschnittsbesucher die Stadt sieht, stumpfe Horizonte inspiriert. Mit ihnen ist der Tag grau, erloschen und ohne Akzente, weil sich ihre Art zu sehen auf die eigene Horizontbildung überträgt. Was der Eine in Stadt, Brücke und Fluss sieht, überträgt sich tendenziell auf den Anderen, in diesem Fall also die gähnende Leere des Nichts.

Geeignet für die Übertragung von Blickweisen sind Kinder, Katzen, Kleinkriminelle etc. als Wesen, deren Horizontbildung in dem, was man selbst auch sieht, ganz anders ausfällt. Der Gewinn besteht darin, das zu sehen, was über die Tatsache hinausgeht, nämlich jenes, was die Katze an Horizont in dem von ihm Gesehenen setzt. Also, ab ins nächste Hospiz, um die Art zu sehen, wie der Sterbende die Dinge sieht!

Sebastian Knöpker