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Phänomenologie von Zug und Sog

Die Aufmerksamkeit durchquert manchmal so die Inhalte, in ihrem Wechsel eine Lust an Zug und Sog zu erzeugen. Die Form vertilgt dann den Inhalt und benutzt sie, um einen Durchlauf zu machen. Wer so gerne den Kicker liest, der lässt die vielen Infoschnipsel über den Fußball durch sich hindurchgehen und hat so ein schönes Zuggefühl.

Manche Menschen überleben sich im hohen Alter selbst und beschäftigen sich im Leerlauf. Sie schummeln dann stundenlang in Schubladen herum und suchen etwas, von dem sie selbst nichts wissen. Die leere Geschäftigkeit hat also keinen Inhalt mehr, sondern nur noch den Zug, im Tun ein schönes Zuggefühl zu erzeugen. Die Schubladensuche ist das phänomenologisch reinste Beispiel für eine Form, die ihre Inhalte durchprozessiert.

Aus der Zuglust kann auch Kunst werden. Ein dunkler Raum und darin lauter Schallereignisse aus einer stereofonen Anlage erzeugen beim Zuhörer einen guten Zug. Er besteht darin, von den Tönen anvibriert zu werden und deren wechselnde Schallquelle (links, rechts, oberhalb von mir) zu spüren. Im Wechsel von Lokalisation, Klangfarbe, Crescendo, leiblich gespürte Tiefe der Vibration usw. wird dann kein melodischer Zug mehr gebraucht, um Musik daraus zu hören.

Ein wichtiger Aspekt für die Kunst ist es dabei, dass der Hörer die einzelnen Ereignisserien nicht nur in aller Aufmerksamkeit durchläuft bzw. in sich als Zug erfährt, sondern dabei auch in eine eigene Welt gerät. Phänomenologisch ausgedrückt geht es darum, nicht etwas im Generalhorizont der Welt zu erleben, sondern aus dem Erleben einen eigenen und der Welt gegenüber abgeschlosssenen Horizont zu machen, so wie das etwa beim Comic geschieht, in dessen Bilderwelt man hinein gezogen wird. Das Bewusstsein von Raum, Zeit und Welt schwindet dabei, um sich in der Welt des Comics wiederzufinden und diese aufzubauen.

Wer sich einen Comic reinzieht, der unterliegt selbst auch einem Zug, in dem der Welthorizont wechselt. Die Kunst beim Comic, sei er auch noch so sehr von der Sorte Marvel, besteht dann darin, Zug und Erschaffung des Sonderhorizontes unter Ausschluss der sonstigen Welten zu leisten. Dasselbe ist der Fall, wenn die Klanginstallation die bisherige Welt ausscheidet und einen Sog in die Klangwelt hervorbringt.

Ein- und Austritt aus dem Spezialhorizont der Musik gehören wesentlich zum Zugerlebnis dazu. Es ernährt sich von der Verlagerung der Aufmerksamkeit innerhalb eines Horizontes und von dessen Wechsel selbst. Die Inhalte spielen dabei eine Rolle, dienen aber nur dem Durchlaufen einzelner Station als lebendige Form, die damit immer als Formung erlebt wird.

Der Mangel an Inhalt zeigt sich phänomenologisch gut beim Leser von Zeitschriften wie der Neuen Revue, der Freizeit am Wochenende, der Freizeitrevue etc., also von Presseorganen, die Boris Beckers Finanzen besprechen und über Helene Fischers Beziehungen berichten. Ältere und noch nicht ganz so alte Damen versinken regelrecht in dieser Presse, die nicht von den Inhalten her kommt, sondern von dem Horizontwechsel und dem Wechsel der Aufmerksamkeit von Story zu Story. Das Lektüreerlebnis der Freizeitrevue besteht in dem Durchlaufen von Inhalten, die belanglos sind, aber genug interessieren, um Zug und Sog zu entfachen.

In der Summe gilt: die Form als Aufmerksamkeitsverlagerung und Horizontbildung kann sich auf Inhalte stützen, um sich zu verwirklichen und bringt dabei Alltagslüste auf (Kicker, Neue Revue) und ist zugleich Basis für das Kunsterleben (Comic, Klanginstallation), das nicht Kunst dem Inhalt sein will, sondern Kunst der Form nach.

Sebastian Knöpker