Menü Schließen

Phänomenologie vor Ort: im türkischen Supermarkt (III)

Von jedem Menschen geht ein atmosphärischer Mehrwert aus, von manchen Menschen sogar ein klimatischer Mehrwert. Solche Leute geben die Wetterbedingungen ihrer Heimat als personengebundene Stimmung an ihre Umgebung ab. Das lässt sich gut in türkischen Supermärkten studieren.

Das Schwarze Meer in der Türkei, so um Trabzon herum, zieht wenig Touristen an. Grund dafür ist das plötzliche Aufziehen von Wolken Schlag fünfzehn Uhr. Ein sonniger Tag wird so durch eine lastende Wolkendecke vorzeitig beendet und erzeugt bei den einheimischen Schwarzmeertürken einen Verdruss, der nicht nur auf sie wirkt, sondern auch ausgehend von ihnen.

Ein Schwarzmeertürke nimmt so das Wetter seiner Heimat manchmal mit und strahlt dieses Seelenklima in seine Umgebung aus. Die örtliche Bevölkerung weiß dann gar nicht, warum der Karadeniztürke so düster drauf ist. Es scheint, er habe persönliche Probleme, wohingegen er nichts anderes als ein lebendiger Wetterbericht ist.

Im türkischen Supermarkt in Deutschland kann man manchmal dieses Phänomen der Wetterübertragung als an die Person gebundene Atmosphäre beobachten. Ist der Metzger des Supermarktes aus Giresun am Schwarzen Meer, so scheint es, als würden ab drei Uhr Nachmittag lauter kleine Wölkchen vorm Gesicht vorbeisegeln. Nun, es ist seine Zeit, also die Zeit dafür, dass in seiner alten Heimat vom Meer her die Bewölkung einsetzt.

Dieser Vorgang ist dann so in ihn eingegangen, dass auch ganz ohne aktuelles Wetter die entsprechenden seelischen Halbtöne an die Supermarktbesucher weiter gibt. Bei diesem Metzger einzukaufen macht dabei nur dann Sinn, wenn man gerade die Fünfzehn-Uhr-Grenze abpasst, wo die Atmosphäre, die einmal ein Klima am Schwarzen Meer war, sich in eine ergreifsüchtige Stimmung ausgehend vom Schwarztürken wandelt. So ergibt sich ein tiefgreifendes phänomenologisches Erlebnis.

Sebastian Knöpker