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Phänomenologische Geschichtsschreibung

Zu DDR-Zeiten brach die Stasi in fremde Wohnungen ein, stellte das Bügelbrett aus der Besenkammer aufgeklappt ins Wohnzimmer und die Geranien vom Balkon ins Schlafzimmer. So sollte ein tiefes Unbehagen bei den Bewohnern geweckt werden, was das wohl alles zu bedeuten hat. Die Paranoia wiederum ist eindeutig ein Fall für die phänomenologische Geschichtsschreibung.

Die Phänomenologie kümmert sich nicht so sehr um den Tatsachenschutt der Geschichte, also nicht um Jahreszahlen und Heeresstärken. Sie bewertet geschichtliche Ereignisse auch nicht moralisch. Ihr Thema ist die Rekonstruktion situativen Erlebens in einem geschichtlichen Kontext.

So findet die Zielperson der Stasi, die abends nach Hause kommt, lauter kleine Rätsel vor: der Zahnputzbecher steht im Kühlschrank und der Käse liegt in der Trommel der Waschmaschine. Diese Fragezeichen bilden in der Folge den Unterbau dafür, einen Oberbau zu empfinden, nämlich ein Superrätsel. Für den arglosen DDR-Bürger verdichten sich die unerklärbaren Vorkommnisse zu einem sonderbaren neuen Gegenstand in der Wohnung.

Das Superplus-Rätsel ist zwar nicht materiell fassbar, aber phänomenologisch eben ein intentionaler Gegenstand, der genauso wirklich ist, wie Bett und Tisch. Für die antiquarische Methode der Geschichtswissenschaft ist dieser Rätsel-gegenstand nicht rekonstruierbar und fällt deswegen aus der Geschichtsschreibung heraus. Man weiß nicht, was der Betroffene damals erlebt hat – und so wird das Überplusrätsel ignoriert.

Darin spielt sich ein Kampf um die Tatsachen ab: ist das phantastische Möbel des unlösbaren Rätsels der verrückten Einrichtungsgegegenstände wirklich oder unwirklich? Phänomenologisch betrachtet handelt es sich um einen vollwertigen Gegenstand, da die verstreute Rätselmaterie in der Wohnung vom Bewohner zu einem Rätsel verdichtet wird. Einzelne offene Fragen kommen so zusammen, dass sie mehr als die Summe der Fragezeichen bilden. Deswegen wird auch von einem Superplus des Rätsels gesprochen.

Durchschaut die Zielperson schließlich, von der Staatssicherheit Besuch bekommen zu haben, bilden sich wieder neue Rätsel: Was wollen sie von mir? Handelt es sich um eine Warnung Werden sie das auch in der Wohnung meiner Freundin machen?

Das Bündel offener Fragen verschiebt sich, erhält sich aber als mentaler Rätselgegenstand. Es handelt sich dabei um eine Produktion der Phantasie des betroffenen Menschen, so dass auch die Phantasie selbst in die Historie einzieht. Historiker wie Jules Michelet haben diese realen Phantasieaspekte beachtet und eine entsprechend farbige Geschichtsschreibung betrieben. Diese Art der Geschichtsschreibung blieb marginal, da sie auch ein wenig unseriös wirkt. Doch Fakt ist: die Kreaturen der Phantasie bilden geschichtlich betrachtet oft eine reale Tatsache.

Sebastian Knöpker