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spazzacamini

Pferd und Horn zu Einhorn, Dinosaurier und Flammenwerfer zu Drache – das ist Phantasie auf niedrigem Niveau. Spannend wird es erst dann, entwirft sich die Phantasie in Gebilden, die nicht bloß bekannte Gegenstände umfingieren. Hier kommen die spazzacamini ins Spiel.

Spazzacamini wurden die Kindersklaven in Norditalien genannt, die bis in die 1950er Jahre in schmale Schornsteine kletterten und dort als lebende Besen arbeiten mussten. Sie waren Schornsteinfeger für enge Verhältnisse und haben sie sich mit gespreizten Knien und Ellenbogen den Abzug nach oben gearbeitet. Im Innern des Kamins wartete dabei nicht nur der Ruß, sondern auch der Kampf mit der eigenen Kinderphantasie.

Im dunklen Schacht hausen für einen Siebenjährigen natürlich unvordenkliche Gestalten des Grauens. Weil sie nicht näher gefasst werden können, wirken sie auf den kindlichen Geist besonders gruselig. Die Zwischenwelt im Kamin besteht nämlich nicht aus lauter bekannten Gestalten und Dingen, die nur leicht umfingiert werden. Die Kinderphantasie erschafft frei flottierende Eigenschaften und lauter unselbstständige Momente, die dann zu Phantasiegegenständen verdichtet werden.

Das Kind schafft es spielend, adjektivische Pseudogegenstände in sich hervorzubringen. Das sind Dinge, die nur aus Adjektiven bestehen und logisch unmöglich sind. Es handelt sich um lauter Prädikate, die keinerlei Subjekt besitzen und doch phantastisch wirklich sind.

Beim Erwachsenen gibt es hingegen in der Regel eine feste Bindung an Logik und Realität. Seine Phantasie bedient sich aus seinem Erfahrungshaushalt und kann so das Unbekannte sicher bewältigen.

Steht der Erwachsene zum Beispiel vor einer Tür, hinter der knurrende Geräusche ertönen, setzt er aus seiner Erfahrung heraus einen leeren und phantastischen Gegenstand namens „Hund“. Er setzt wirkliche Gegenstände, die anschaulich leer bleiben, aber sich doch an die gegenständliche Welt und ihre Logik halten. Das ist günstig für die Alltagsbewältigung, aber ein Verlust für die Phantasie.

Die Kinderphantasie bevölkert dagegen auf alternative Weise den Raum unter dem Kinderbett. Sie setzt unter Matratze und Lattenrost Quasi-Gestalten, die als Gegenstände nie ganz fertig sind, da sie sich immer neu formen. Phänomenologisch ausgedrückt ist die Aktserie der Gegenstandskonstituierung beim phantastischen Erleben des Bettunterbaus wichtiger als das gegenständlich Bestimmte. Der Vorgang des Erschaffens von Phantasiedingen überwiegt als Abenteuer des sich bildenden Sinns also den zu erschaffenden und fertigen Sinn selbst.

Will der erwachsene Mensch wieder in diese Regionen der freien Phantasie vorstoßen, ist die erste Wahl dafür nicht der Escape-Room. Hier trifft er wieder auf eine logisch-dinglich vorgefertigte Phantasie.

Geeigneter ist die Literatur des phantastischen Realismus. Bei Autoren wie Eugen Egner oder Bruno Schulz werden Elemente des nüchternen Erzählens mit phantastischen Aberrationen so zusammengebracht, dass zwischen den Zeilen eine Bevölkerung mit vorsprachlichem Sinn Vorschub geleistet wird.

Die Sprache von Bruno Schulz („Die Zimtläden“) ist also gar nicht darauf aus, eine handfesten Situation zu erzählen. Beim Leser soll vielmehr auf Basis des Realismus ein Horizont an sprachlichen Sinngestalten entstehen, der so wie den spazzacamini logisch unmögliche Gestalten zu provozieren.

Mit sprachlichen Mitteln werden im phantastischen Realismus also durchaus sprachliche Gebilde hervorgebracht, aber solche, die sich in Analogie zur Phantasie des lebendigen Besens im Kamin der herkömmlichen Sprache entziehen. Das Unkonventionelle besteht darin, lauter adjektivisches Bestimmungen ohne Subjekt zu bilden. Dadurch ergibt sich ein starker phantastischer Reiz, der Maßstäbe in Sachen Phantasieproduktion setzt.

Sebastian Knöpker