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Sediment in der Phänomenologie

Das Gesicht eines rücksichtslosen Menschen, der es eilig hat, sich zu verwirklichen: junge Menschen haben es oft, wenn sie ohne Bezahlung für idealistische Dinge eintreten und kämpfen. Die Rücksichtslosigkeit liegt an einem heimlichen phänomenologischen Vorgang, dem Sedimentieren.

Ein Kleinkind, dass viele Experimente macht, um sich hinzusetzen, behält aus diesen Versuchen einen dauerhaften Erwerb. So versteht es für den Rest des Lebens, dass man sich zum Hinsetzen von der angestrebten Sitzfläche erst einmal abwenden muss, um dauerhaft und erfolgreich zum Sitzen zu kommen.

Das kleine Kind sedimentiert dabei, eine Erinnerung ohne Ort und Zeit zu bilden: es weiß aus seinen Versuchen, dass eine bestimmte Bewegungsfolge nötig ist, um sich hinzusetzen. Einmal erlebt, hinterlässt das Erlebnis dauerhafte Spuren, eine Fähigkeit oder einen bestimmten Assoziationsstil erworben zu haben.

So gilt: einmal auf die heiße Herdplatte fassen, in der Folge Schmerz empfinden und dann für den Rest des Lebens etwas gelernt haben, ohne überhaupt etwas gelernt haben zu wollen.

Dieses Prinzip findet sich auch bei vielen jungen Menschen. Zum Karrieremachen noch zu jung durchlaufen sie gerne idealistische Phasen. In dieser Zeit retten sie die Welt, genauer, sie lernen, wie man die Dinge so organisiert, wie das dann später nützlich ist, wollen sie die Welt nicht mehr retten, sondern verwerten.

Ob der junge Mensch die Welt rettet oder ausbeutet ist vom Standpunkt des Sedimentierens aus einerlei, da er in jedem Fall einen dauerhaften Habitus erwirbt, wie Fundraising betrieben wird, wie man Widerstände innerhalb der eigenen Organisation überwindet, wie man durch Freundlichkeit zum Ziel kommt, durch Ignoranz, Intrigieren etc.. Anders ausgedrückt ist das, was er macht, nicht das, was er macht, sondern reines Sedimentieren, Anhäufen von Urstiftungen als Fähigkeiten.

Ein Punk sieht das mit Verachtung. Zwar weiß er nicht, dass es hier um Sedimentierung geht, aber er hat ein sicheres Gefühl dafür, dass jemand nach vorne kommen will, drückt und stößt. Er selbst spricht dagegen aus einer Position unanfechtbarer Stärke, da er nichts macht und deswegen auch keinen Karriere-Habitus erwerben kann. Seine Sedimentierung kommt zwar nicht zum Stillstand, aber der Punk tut, was er kann (möglichst nichts), damit sie möglichst gering ausfällt.

Im hohen Alter dreht sich dann der Wind – es geht nicht mehr um den Erwerb neuer Sedimente, sondern um ihren Verlust. Sitzt so der Neunzigjährige in der Küche und hört wie der Kühlschrank anspringt, so fragt er sich, was denn da so brummt.

Obwohl er seit Jahren dieses Geräusch hört und auch gut kennt, hat er die Urstiftung zwischen Kühlschrank (Ding) und Betriebsgeräusch (Geräusch) verloren. Er kann keine Zuordnung mehr vornehmen, keine Zuweisung zum selben intentionalen Gegenstand. So stehen die beiden Wahrnehmungen getrennt nebeneinander.

Der Grund dafür ist der Verlust eines sehr einfachen Sedimentes. Dieses hat er sich neu zu erwerben, wenn er den Vorgang in seiner Küche verstehen will. Dabei ist es wahrscheinlich, dass er ab nun desöfteren diese Verbindung wieder herzustellen hat, da sie eben nicht mehr sedimentiert. Sie geht nicht mehr in seinen Habitus über.

Sediment heißt also zusammenfassend, dass eine einmalige Handlung einen dauerhaften Erwerb (Fähigkeit) mit sich bringt. Das Sediment ist die Einheit von Erinnern (das Wie der Aktion) und Hineinvergessen (Ort, Zeit, Umstände des Erlebnisses werden nicht mehr erinnert). Sedimentieren als Vorgang ist also etwas der Sache nach Heimliches, da weder das Ziel als Erwerb antizipiert, noch die Umstände des Erwerbs erinnert werden.

Sebastian Knöpker