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Praktische Phänomenologie: das Eidos

Aus der Mannigfaltigkeit aller Varianten bildet sich durch Deckungsgleichheit das Wesen. Die Invariante aller Varianten nennt man Eidos. Praktisch hat das Wesen den Vorteil, zugleich die Liebe als Eidos zu lieben als auch konkret verliebt zu sein. Praktisch hat das den Nachteil, bei einem unglücklichen Verlauf der Dinge auch noch das Pech als solches zu erleben.

Echte Langeweile heißt nicht nur, an Unterbeschäftigung und Mangel an Sinnlichkeit zu leiden. Meist kommt auch noch das Erleben der Langeweile als solcher hinzu. Dann wird das Wesen zugleich mit einer seiner Varianten gelebt, was den Eindruck der Langeweile deutlich verstärkt. Ich langweile mich dann konkret und leide unter der Langeweile.

Liebe, Pech, Glück und Zeit sind als Wesen jeweils Abstraktionen von konkreten Vollzügen, die aber keineswegs abstrakt, sondern konkret erlebt werden. Die Kritik am Idealismus des Wesens zeigt sich entsprechend darin, dass die Invariante sich so wie eine weitere Variante der zugrundeliegenden Varianten verhält. Das dürfte aber nicht sein, wäre hier wirklich das Eidos am Werk. Und tatsächlich, ein Wesen liegt nicht vor, eher eine nachlässige und schludrige Abstraktion, die keineswegs zum Wesen vordringt.

Phänomenologisch ist daher diese Sorte Wesen von seiner praktischen Seite her interessant: wie kann ich Wesen und Variante in einem Atemzug leben, auf dass sich mein Glück, meine Lust und meine Lebendigkeit vervielfältigen? Wie kann ich mich glücklich verdoppeln, Wesen und Variante zugleich sein?

Eine überhebliche Antwort darauf fand Goethe, der sich selbst als Wesen seiner empirischen Person auffasste. Es gibt kaum eine Zeile, in der nicht Goethe als der Verfasser spürbar wird, also die Tatsache, dass hier nicht irgendjemand spricht, sondern das Wesen Goethes, unverwechselbar und ewig während. Seine Selbstüberhebung wirkt auf den Leser von Anfang an unheilbar, eben weil sich hier jemand selbst als sein Wesen auffasst.

Goethe betrachtete sich nicht als Ausdruck des Lebens, sondern das Leben als Ausdruck seines Goethetums. Umgekehrt macht es eher Sinn, sich manchmal als Verwirklichung des Lebens selbst aufzufassen und hier eine Dopplung vorzunehmen: die Lebensbewegung in sich zu spüren, selbst bei unangenehmen Vorgängen, kann so zu einer berührenden Erfahrung führen.

Spätestens beim Sterben ist das wichtig, da hier die Bewegung des Lebens das baldige Ableben als Vollzug des Lebens selbst zu einer Erfahrung macht, die Lust und Unlust übersteigt. Davon zu sprechen „eine Erfahrung zu machen“ heißt dann, sich selbst als lebendig zu erfahren, um darin das Leben in seinem Vollzug zu erfahren. Sterben ist demnach ein Vorgang, der in der Überordnung des Lebens als das Wesen des lebendigen Menschen empfunden werden kann.

Sebastian Knöpker