Menü Schließen

Selbstgefühl in der Phänomenologie

Es gibt Straßen, die ohne weiteren Eigenschaften eine Straße mit einer anderen verbinden. Sie erschöpfen sich in ihrer Funktion. So ist es auch mit vielen Menschen: sie haben ein schmuckloses Empfinden von sich selbst, ein Selbstgefühl, das ohne weiteres aufgepeppt werden könnte, um ein Subjekt mit Schuss zu werden.

Das Sonderselbstgefühl zeigt sich beim Obergefreiten, der zum Unteroffizier ernannt wird: auch wenn er abends zu Hause den Müll runterbringt, wird er sich als der Auserwählte und der Besondere fühlen. Sein Selbstgefühl ist erhöht und besitzt den Schmuck, besonders zu sein.

Das Ganze hält nicht lange vor und schon bald bringt er den Müll wieder als normales Subjekt runter zur Tonne.

Nach einiger Zeit wird er aber anfangen, sich als der Übergangene zu fühlen, wenn er nicht weiter befördert wird. Der Herabgesetzte fühlt sich dann auch bei Verrichtung einfachster Tätigkeiten herabgesetzt, obwohl er keinen Grund dazu hat. Den Müll kann man schließlich  auch mit einem einfachen Selbstgefühl heruntertragen.

Hat sich aber eine unerfreuliche Qualität in das Selbstgefühl geschlichen, so macht es sich dort gemütlich in Raum und Zeit breit. Das Positive schwindet schnell, aber das Negative hält sich und wird leicht chronisch. Menschen können eine Heraufsetzung schnell vergessen, eine Herabsetzung jedoch oft nicht.

Politisch wird diese Eigenart des Selbstempfindens bei der verdeckten Armut. Der Arme, der seine geringe Kaufkraft verstecken will, bleibt dann am liebsten zu Hause. Das sieht ihn keiner, aber er entwickelt dabei in der Regel ein Selbstgefühl des Klandestinen. Er führt eine heimliche Existenz, hat etwas zu verbergen oder phänomenologisch ausgedrückt, empfindet er das Heimliche ohne Rückbindung an das, was eigentlich zu verbergen ist. Sein Selbstgefühl ist heimlich und nicht bloß Heimlichtuerei in Bezug auf das Verbergen ganz bestimmter Lebensumstände.

Politisch wird das Subjektgefühl auch bei manchen Transsexuellen, die über die politische Integration ihrer Existenz hinaus ein beständiges Selbstgefühl als Transsexueller fordern. Das Herausgehobene der Andersartigkeit als Selbstgefühl ist aber eine bedrohte Qualität in dem gesellschaftlichen Prozess der Normalisierung sexueller Identitäten.

Die beständige Ablehnung von Transsexualität, so wie sie früher im Alltag praktiziert worden ist, hatte den Vorteil, sich immer als eine besondere Existenzform fühlen zu können, also auch beim Runterbringen des Mülls. Da das nur noch eingeschränkt möglich ist, neigen manche Transsexuelle zu einer Hyperinszenierung ihrer Besonderheit.

Ein Grund dafür ist der Wunsch, sich bei eigentlich unwesentlichen Vollzügen im Alltag als ungewöhnlicher und auserwählter Mensch fühlen zu wollen. Man will nicht nur manchmal, sondern immer ein Subjekt mit Schuss sein.

Sebastian Knöpker